Imaginäre Bergwelt

Chantal Steiner, VOX SPECTATRITIS (02.07.2006)

Tiefland, 01.07.2006, Zürich

Als letzte Premiere dieser Saison gelangte das selten aufgeführte Werk Eugen d’Alberts, „Tiefland“, zur Aufführung. D’Albert, der von 1864-1932 lebte, war ein blendender Klaviervirtuose und hinterliess 24 Opern; die meisten dürften jedoch nur einem kleinen Publikum bekannt sein.

„Tiefland“ war eine der Lieblingsopern Adolf Hitlers, so dass das Werk ab Mitte des letzten Jahrhunderts nur noch sporadisch aufgeführt wurde. Nach dem gestrigen Abend kann man das nur bedauern. Sicherlich ist das Werk kein Meisterwerk, dazu fehlt die ganz eigene Handschrift. Wagners Einfluss lässt sich genauso wenig verleugnen wie z.B. Puccini, Bizet, Mascagni („Cavalleria“) und die Zarzuela- und Operettengattung. Die Orchestrierung ist jedoch sehr farbig, raffiniert und bildet einen hervorragenden Klangteppich für die Stimmen. Das Orchester unter der Leitung von Franz Welser-Möst packte die Aufgabe mit dem bereits von ihm bekannten Engagement an, speziell die Holzbläser waren bestens disponiert. Ein warmer, sinnlicher, plastischer Klang vermittelte alle Schattierungen dieser expressionistischen Musikwelt.

Hochkarätige Stimmen…

Stimmlich war es ebenfalls ein Leckerbissen. Ein hochkarätiges Ensemble – Rollendébut für alle Beteiligten – wurde angeführt von Peter Seiffert als Pedro. Von lyrischen Pianissimi bis zum dramatischen Fortissimo, gekoppelt mit einer exzellenten Diktion (was übrigens für alle Sängerinnen und Sänger gilt), entlockte der Sänger seiner Stimme alles. Einziger kleiner Makel bleibt die nicht sehr ausgeprägte tiefe Lage. Die Stimme verfügt immer noch über die für diese Rolle notwendige Naivität, den Schmelz und die Durchschlagskraft. Eine hinreissende Leistung! Das Gleiche gilt es von Petra-Maria Schnitzer zu sagen. Sie verkörperte eine berührende, verzweifelte Marta. Erstaunlich, wie ihre Stimme an Volumen zugenommen hat (ihre Ausflüge ins Wagnerfach lassen sich nicht leugnen); trotzdem vermag sie die lyrischen, leisen Passagen ebenso schön zu gestalten. Hier kommt ihr ihre Erfahrung im Liedgesang sehr zustatten. Beide, Seiffert und Schnitzer, vermögen die Entwicklung der unterwürfigen „Sklaven“ zu mündigen Bürgern glaubhaft zu gestalten.

Der vor allem als Liedsänger bekannte und nur sporadisch Opern singende Bariton Matthias Goerne verkörperte den Bösewicht Sebastiano perfekt. Ich persönlich mag seine Stimme nicht sonderlich (sie ist mir etwas zu spröde und zu guttural), doch auch ihm war seine Lieder-Erfahrung in der Phrasierung positiv anzumerken. Er interpretierte seine Rolle perfekt, sowohl stimmlich wie darstellerisch, auch wenn ihm vielleicht ein Quäntchen Boshaftigkeit fehlte.

Erfreulich war die Leistung von Lászlo Pólgar (der in seinen letzten Auftritten nicht wirklich zu überzeugen vermochte). Die Stimme verfügte wieder über die profunde Sonorität und Weichheit, die wir von früher gewohnt waren. Ebenfalls überdurchschnittlich die naive Nuri von Eva Liebau und der Nando von Rudolf Schasching. Die übrigen Protagonisten (Liuba Chuchrova, Kismara Pessatti, Christiane Kohl, Valery Murga) sowie der Chor des Opernhauses agierten auf gewohnt gutem Niveau.

…aber zwiespältige Inszenierung

Nun zur Handlung: Das Libretto erzählt von einem Grossgrundbesitzer, Sebastiano, Herr über das Tiefland. Dieser hatte die (minderjährige) Marta gezwungen, seine Geliebte zu werden. Nun aber hat er Schulden und will diese mittels Heirat mit einer reichen Frau tilgen. Da er aber nicht auf Marta verzichten will, verheiratet er sie mit Pedro, einem Hirten aus den Bergen. Dieser hatte zuvor geträumt, dass Gott ihm endlich eine Frau geben werde. Daher willigt er – nachdem er Marta gesehen hat – sofort in die Heirat ein, denn er verliebt sich umgehend in sie. Marta jedoch nimmt an, dass er sich kaufen liess und will vorerst von ihm nichts wissen. Der Älteste der Gemeinde, Tommaso, lässt sich von Sebastiano auch überzeugen, dass diese Ehe für alle das Beste ist, wird aber relativ schnell durch den Mühlknecht Sebastianos eines Besseren belehrt und versucht, die Trauung zu stoppen.

Pedro wirbt um Marta, die ihn aber abblitzen lässt. Er erzählt ihr, wie er seinen ersten Taler, den er ihr schenken will, verdient hat: nämlich indem er einen Wolf besiegt hat. Fast wäre er dabei selbst gestorben. Marta erkennt langsam den ehrlichen Charakter ihres Mannes und verliebt sich in ihn. Sie widersteht dem Ansinnen Sebastianos, die Hochzeitsnacht mit ihm zu verbringen, und erzählt Tommaso, wie sie in die missliche Lage gekommen ist. Tommaso rät, Pedro alles zu erzählen, was Marta nach anfänglichem Zögern dann auch tut, wenn auch nicht vollständig.

Sebastiano vereitelt die Flucht der beiden und lässt Marta für sich tanzen, bis diese sich wehrt und Pedro auch noch den Namen des Verführers preisgibt. Da gibt es für Pedro kein Halten mehr und ein Kampf beginnt, der für Sebastiano tödlich endet. Ein neues Leben in den Bergen kann beginnen.

So weit, so gut. Matthias Hartmann, noch bis 2009 Zürcher Schauspielhausintendant, versetzte die Geschichte in die 1930er-Jahre (was zurzeit grosse Mode zu sein scheint). Sebastiano ist Herr über ein Wirtschaftsimperium. Tommaso und Nando sind ihm unterstellte Wissenschaftler. Dadurch hat er Zugang zu den Vorstellungswelten der Klone, die im Labor gezüchtet werden. Pedro lebt in einer imaginären Bergwelt, die mittels – zugegebenermassen hervorragenden – Videoprojektionen gezeigt wird.

Der sehr ästhetische Innenraum der Mühle, in der die Handlung angesiedelt ist (sie dient als Inbegriff des Tieflandes, das gemäss den Aussagen Nandos die Ausgeburt des Bösen ist), wird in der Inszenierung allerdings sehr konventionell dargestellt (Bühnenbild: Volker Hintermeier) und die Geschichte nimmt ihren traditionellen Lauf. Hervorragend ist jedoch die Personenführung und wunderschön sind die Kostüme (Su Bühler). Das Stück ist spannend, es kommt nie Langeweile auf. Aber die Aussage von Hartmann wird nicht wirklich klar. Am Ende verwandelt sich die Bühne wieder in Tommasos Labor; er schickt Marta und Pedro in die imaginäre Bergwelt zurück. Warum Tommaso, der sich doch gegen Sebastiano gewandt hat? Warum entlässt er sie nicht in die reale Welt? War alles nur ein Traum?

Ziemliche Ratlosigkeit bei den meisten Besuchern. Allerdings war das Buhkonzert für Hartmann wohl eher eine „politische“ Reaktion auf seinen vorzeitigen Abgang nach Wien. Im Verlaufe dieser Saison war manche Inszenierung schlechter (vor allem handwerklich) und wurde nicht so ausgebuht.

Einhelliger Jubel hingegen für das gesamte musikalische Team. Der Staccato-Applaus hatte bereits in der Pause begonnen.

Fazit: ein musikalisch hoch stehender Abend mit einem Werk, das die Ent- oder Wiederentdeckung lohnt.