Durch das Höllentor aufs Meer hinaus

Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (13.01.2009)

Simon Boccanegra, 11.01.2009, Zürich

Giuseppe Verdis «Simon Boccanegra» mit Leo Nucci im Zürcher Opernhaus

In seiner Kritik an der Erstfassung von «Simon Boccanegra» kannte der junge Literat Arrigo Boito keinen Respekt vor dem grossen Maestro Verdi: «Das Drama, das uns beschäftigt, ist verdreht, es erscheint wie ein Tisch, der wackelt, man weiss nicht, auf welchem Bein.» Der Tisch des genuesischen Dogen auf Carlo Centolavignas Bühne im Zürcher Opernhaus wackelt nicht, denn er ist, wie alle Dekorationselemente dieser Inszenierung, massiv gebaut. Die Säulen und Wände, der Sockelfries vom Monumento Vittorio Emanuele, eine nackte männliche Kolossalfigur, der reich verzierte Thronsessel: Alles täuscht kalten weissen Marmor vor und zitiert quer durch die (italienische) Geschichte die Bildsprache der Macht. Aber geht es in «Simon Boccanegra», der mit Boitos Hilfe in der Zweitfassung zu einer der dichtesten, intimsten Verdi-Opern geworden ist, tatsächlich um Macht?

Kurzer Sieg, langer Tod

Der Korsar Simon lässt sich im Parteienstreit zwischen Patriziern und Plebejern nur deshalb für das Dogenamt portieren, weil er so den Widerstand Fiescos gegen die Heirat mit dessen Tochter Maria zu brechen hofft. Doch als die Wahl verkündet wird, hat Simon im verlassenen Palast Fiescos gerade den Leichnam der Geliebten entdeckt. Die neue Würde bedeutet ihm nun nichts mehr. So fallen schon im Prolog Triumph und Tod zusammen. Als Memento mori dient auf Centolavignas Bühne eine aus der Distanz kaum lesbare Reproduktion von Rodins «Höllentor». Die 25 Jahre später spielende Haupthandlung erzählt dann davon, wie Simon seine unter falschem Namen aufgewachsene Tochter, das Kind der verstorbenen Maria, wiederfindet, wie er den Parteienstreit zu schlichten und unter Berufung auf den Dichter Petrarca Frieden zwischen den Seemächten zu stiften sucht, schliesslich aber einer Verschwörung zum Opfer fällt. So ist denn alle Macht nichtig, Bestand hat nur das weite Meer, dem der Komponist mit sublimer Klangmalerei und der Bühnenbildner mit suggestiven Projektionen huldigt.

Nicht nur bei der Raumgestaltung, auch bei den Kostümen treibt die Zürcher Neuinszenierung grossen Aufwand. Und da sie primär auf ästhetische Kriterien setzt, verhält sie sich in der Wahl der Formensprache eklektisch. So ist die Kostümentwerferin Maria Filippi im Stilbuch der Renaissance fündig geworden, während die Architektur einen faschistoiden Neoklassizismus kultiviert. Farblich dominiert zuerst der Kontrast von Rot und Schwarz, beim langen Sterben des Dogen wird dann mit zartem Blau die Verbindung zum schimmernden Meer und zum Himmel mit seinen ziehenden Wolkengebilden geschaffen. Das ist alles schön anzusehen, bleibt aber blosse Dekoration. Denn dort, wo sich der Rang einer Inszenierung entscheidet, in der Verlebendigung der Figuren, wird weit weniger Detailarbeit geleistet als bei der Ausstattung. Wie intensiv hat Christof Loy vor zwei Jahren in Frankfurt dieses Stück auf fast leerer Bühne, nur aus dem Zusammenspiel und der Charakterisierung der Personen vergegenwärtigt, wie leer und vordergründig wirkt daneben das Geschehen auf der üppig ausgestatteten Zürcher Bühne.

Für Giancarlo del Monaco heisst Regie primär Organisation von Bewegungsabläufen und effektvolles Arrangement von Chorszenen (musikalisch gelingen Letztere in der Zürcher Aufführung eindrücklich). Was sie aus ihren Rollen machen, bleibt weitgehend den Sängern überlassen. Leo Nucci, dem die Titelrolle auf den Leib und die Stimme geschrieben scheint, bietet einmal mehr grosse Sängeroper traditioneller Art. So beschränkt sein schauspielerisches Vokabular ist, mit seiner blossen körperlichen Präsenz, vor allem aber mit seiner nach wie vor erstaunlich satten Stimme, welche die Lebenserfahrung des Dogen in Form vokaler Meisterschaft ohne alle Altersspuren vermittelt, lässt er keinen Zweifel daran, dass dies sein Stück, sein Abend ist. Roberto Scandiuzzis Fiesco wirkt daneben mit seinem dröhnenden, instabilen Bass fast schwächlich, während Fabio Sartori als Gabriele Adorno zwar mit einem phänomenal strahlkräftigen Tenor aufwartet, als Darsteller aber kaum zählt. Als gefährlicher Gegenspieler Simons profiliert sich Massimo Cavalletti, der dem Mörder Paolo einen robusten Bariton von grosser Spannweite leiht.

Feinarbeit am falschen Ort

Pech für Isabel Rey, dass sie bei ihrem Début als Amelia in Sartori einen derart stimmgewaltigen Partner hat. Ihr kultivierter, heller Sopran zeichnet schöne, ebenmässige Phrasen, verfügt jedoch nicht über genügend Kraft und Volumen, um der Partie auch emotionalen Ausdruck zu geben. Und da die Sängerin von der Regie kaum geführt wird – wiederholtes Niedersinken macht noch keine Darstellung aus –, kann sich die typische Verdische Vater-Tochter-Beziehung nur ansatzweise entwickeln. Hat Isabel Rey den Schritt vom lyrischen ins Lirico-spinto-Fach nicht zu früh gewagt?

Die musikalische Leitung dieser jüngsten Verdi-Produktion des Opernhauses hat Carlo Rizzi, und auch von ihm hätte man sich mehr Detailarbeit gewünscht. Zumal in den «impressionistischen» Momenten kommt zwar die Klangkultur des Orchesters zu schönster Wirkung. Rizzi versteht es auch, dramatische Akzente zu setzen, doch um grosse Spannungsbögen aufzubauen und auszuformen, scheint es ihm an Durchsetzungsvermögen zu fehlen. Das Problem ist nicht neu, verschärft sich jedoch zusehends: Wenn nicht der populäre Altmeister Nello Santi am Pult steht, fehlt es in der Pflege des italienischen Repertoires an Konstanz.