Das Drama des begabten Kindes

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (20.01.2009)

Der fliegende Holländer, 18.01.2009, Basel

Richard Wagners «Fliegender Holländer» spektakulär am Theater Basel

Halb Grusical, halb psychologische Studie – Regisseur Philipp Stölzl macht aus Richard Wagners Seefahrerdrama ein Stück von komplexer Doppelbödigkeit. Gesungen wird darin weitgehend gut bis vorzüglich.

Eigentlich müsste das Stück «Senta» heissen. Die sagenhafte Holländerfigur, nach der es seit seiner Uraufführung 1843 benannt ist, ist nichts anderes als ein Traumprodukt von Senta, der ältlichen Tochter eines kleinkrämerischen norwegischen Seemannes. So wie dieser die Ankunft eines reichen Seefahrers herbeifantasiert, dem er gegen gutes Geld seine Tochter verhökern kann, träumt Senta von einem stattlichen Mannsbild voller Exotik und geheimnisvoller Bedürftigkeit, das sie durch ihre Liebe «erlösen» kann.

Schon oft ist diese frühe Wagner-Oper aus der Perspektive der Senta als Traumerzählung auf die Bühne gebracht worden, am wirkungsvollsten wohl von Harry Kupfer in seiner berühmten Bayreuther Inszenierung von 1978.

Philipp Stölzl geht nun in seiner fulminanten Basler Produktion noch einen Schritt weiter und zeigt uns Senta als zunehmend dem Wahn Verfallene, die sich angesichts ihrer trüben Realitätsaussichten in die Jugend zurückfantasiert. Am Ende wird sie in den Selbstmord fliehen, nachdem sie ihren realen Ehemann mit einer Flasche ins Jenseits und ihren Jugendfreund Erik in die Bewusstlosigkeit befördert hat.

FOLIANT. Schon die Ouvertüre wird bebildert. Eine junge Frau, ein Kind fast noch, stöbert nachts in der Bibliothek ihres Vaters und zieht einen Folianten aus dem Regal, in dessen Lektüre sie sich förmlich vergräbt, bis der Schlaf sie übermannt und das Unbewusste im Traum sein Recht behauptet. An der Wand hängt ein riesiges Gemälde, es zeigt das wild aufschäumende Meer. Plötzlich belebt sich dieses Bild wie in Woody Allens «Purple Rose of Cairo» die Filmleinwand, und reale Menschen steigen aus dem Gemälde auf die Bühne herunter, allen voran Sentas Vater Daland (Liang Li, ein ausgezeichneter, niemals grober Bass von markanter stimmlicher Statur).

Der Steuermann trällert sein Lied vom Liebchen und schläft darüber ein (profiliert in Intonation und Diktion: Karl-Heinz Brandt). Deshalb bemerkt er nicht, dass ein zweites Schiff gelandet ist: ein schwarzer, seit Jahrhunderten im Wasser irrender und von allerlei Meereskram überwachsener Kahn, dem düstere Gestalten entsteigen. Die düsterste trägt einen Handhaken und eine Metallklaue wie der Handlanger von Dr. Kananga im Bond-Film «Leben und sterben lassen». Es ist der Holländer selbst, der sich, die Weltkugel als Symbol für sein ewiges Umherirren im Arm, auf dem Boden der Bibliothek niederlässt. In Alfred Walker hat die Basler Produktion einen stimmlich höchst attraktiven, die Partie souverän gestaltenden farbigen Sänger für diese Gruselpartie par excellence gewonnen.

FANTASIE. In Wagners Text ist häufig von einem Bild die Rede, in das sich Senta vergafft und das zum Bruch mit ihrem Verlobten Erik beiträgt. Und so wie der fliegende Holländer in Senta nicht die reale Frau, sondern eine Idealprojektion von dieser sieht, erblickt sie im Holländer eine Verkörperung des ihr bekannten Gemäldes. Das Bild tritt an die Stelle der Wirklichkeit.

Regisseur Stölzl fügt nun dieser Doppelperspektive von Bild und Realität noch eine dritte Ebene hinzu, die des Traums. Während Senta sich von einer herrischen Amme umherkommandieren lässt (Rita Ahonen) und zusieht, wie ihre Altersgenossinnen mit sinnlosem Eifer die ohnehin schon blitzblanke Bibliothek reinigen, entwirft sie in der grossen g-Moll-Ballade des zweiten Aktes wie in Trance ihre Vision vom verfluchten Seefahrer, den sie durch ihre Treue erlösen will.
Es hat grosses darstellerisches Format, wie die Sopranistin Kirsi Tiihonen die drei Strophen dieser Ballade mit ihrer voluminösen, höhensicheren und nur wenig zum Forcieren neigenden Stimme zum Kraftzentrum des Ganzen macht.

FLUCHT. Der brave Jäger Erik (stimmlich überaus engagiert, aber mit Hang zum Übersteuern: Thomas Piffka) findet keinen Gefallen an den Flausen und der Bilderverliebtheit seiner Verlobten und träumt den Albtraum vom Holländer als dem wahren Mann seiner Senta – eine Vision, die Sentas unbewussten Wünschen erst Nahrung gibt. In dieser Traumerzählung kommt einmal mehr das Bild im Bühnenbild zum Einsatz – eine der perfekt verschachtelten Szenen, die handwerklich so gelungen sind, dass sich Regisseur Stölzl nach der Premierenvorstellung demonstrativ bei der Basler Bühnentechnik bedankte.

Vater Daland hält als Realist wenig von solchen Traumgespinsten und verheiratet seine Tochter mit einem feisten Zigarren rauchenden alten Holländer (perfekt: René Blum). Das Nebeneinander der Figuren und ihrer Doubles kann verwirren, aber es hat System: Die ihren Wahnvorstellungen nachhängende Senta bleibt erkennbar identisch, ob jung oder gealtert, während der Holländer in ihrer Vorstellungswelt ein attraktiver Held und in Wirklichkeit das pure Gegenteil ist.
Die Szene, da Vater Daland der Widerspenstigen gewaltsam den Ehering übern Finger streift, gehört zu den stärksten Momenten dieser an starken Bildern und überraschenden Effekten reichen, allerdings zu häufig an der Rampe gesungenen Inszenierung. Ein anderer optischer Höhepunkt ist die Schlussszene, wo man im Bilderrahmen das ausfahrende Schiff des Holländers sieht und darauf fünf Frauen, die der «arme Mann» – eine Art seefahrender Herzog Blaubart – vor Senta schon zu Erlösungszwecken verbraucht hat.

FORTE. Wagners «Holländer»-Oper ist nicht zuletzt eine gewaltige Herausforderung für die Chöre, die in der Basler Produktion fast durchwegs imponierten – die kammermusikalisch zart singenden Frauen noch mehr als die bisweilen leicht asynchronen stimmkräftigen Männer (Einstudierung Henryk Polus).

Das Sinfonieorchester Basel erreichte in der Premiere ein beachtliches Niveau vor allem im hier stark dominierenden Blech, das erst gegen Schluss Ermüdungserscheinungen zeigte. Dirigent Friedemann Layer schlug zügige Tempi an und achtete mit Erfolg auf nahtlosen Kontakt zwischen Orchestergraben und Bühne. Nach 135 pausenlosen Spielminuten konnte er sich mit dem Inszenierungsteam – neben Stölzl und seiner Assistentin Mara Kurotschka der Bühnenbildner Conrad Reinhardt und die Kostümbildnerin Ursula Kudrna – den begeisterten Applaus für eine Aufführung teilen, mit der das Dreispartentheater wieder einmal gezeigt hat, was es kann.