Sturz in Wahn und Verzweiflung

Christian Fluri, Mittelland-Zeitung (20.01.2009)

Der fliegende Holländer, 18.01.2009, Basel

Theater Basel: Philipp Stölzl inszeniert Wagners «Der Fliegende Holländer» in starken, auf der Romantik aufbauenden Bildern. Ein grosser Opernabend.

In einen grossen Bibliotheksraum schauen wir. In der Mitte prangt ein riesiges Meer-Bild. Es zeigt eine stürmische See, an den Klippen brechen sich die Wellen. Der von Regisseur Philipp Stölzl und Conrad Reinhardt gestaltete Bühnenraum verortet Richard Wagners «Der Fliegende Holländer» in seiner Entstehungszeit. Stölzl, der Regisseur des Films «Nordwand» und von Gounods Oper «Faust» vor einem Jahr, erzählt Wagners frühe Oper auf der Grossen Bühne des Theaters Basel als Geschichte des 19. Jahrhunderts und in einer auf die Romantik bauenden Bildsprache. Hier sind Caspar David Friedrich und andere Pate gestanden.

Und vor allem erzählt Stölzl (Co-Regie: Mara Kurotschka) genau und glaubwürdig: Erklingt in der Ouvertüre das Liebesmotiv, betritt Senta › als Mädchen noch › heimlich die dunkle Bibliothek, in der Hand einen Kerzenleuchter. Sie holt sich vom oberen Regal ein Buch, liest darin, die Geschichte zieht sie in ihren Bann, erregt sie, weckt ihren Eros. In ihr scheint ein Sturm zu toben, wie auf dem Bild.

Senta imaginiert sich die Geschichte und deren Figuren: Im Meer-Bild werden sie lebendig. Kapitän Daland, ihr Vater, und seine Mannschaft werden vom Sturm ans Gestade getrieben. Hier können sie sich ausruhen. Sie steigen aus dem Bild bevölkern den Bibliotheksraum. Sentas Vision vermischt sich mit der äusseren Realität. Ans selbe Ufer verschlägt es auch den Holländer mit dem schauerlich dunklen Geisterschiff. Er selbst, der zum ewigen Umherirren vedammte Untote, den nur die Liebe einer treuen Frau erlöst, erhebt sich neben der in ihrer Vision gefangenen Senta aus dem Sofa und singt von seinem Leid.

Sentas Phantasma ist die Holländer-Figur in Stölzls Inszenierung, keine reale Figur. Das Bild des Verlorenen wird zur Obsession der in ihrer häuslichen Enge eingesperrten Bürgerstochter, wie sie typisch ist für das 19. Jahrhundert. Der Holländer weckt ihr Begehren nach entgrenzendem Eros, nach einer Freiheit jenseits ihres realen Lebens, letzlich nach einer Vereinigung mit dem Tosen der Welt. In ihrer Vision manifestiert sich zudem die selbstzerstörerische Seite ihres Begehrens. Der schwarze Mann mit einem furchterregenden Eisenhaken an der Rechten und einer Eisenhand an der Linken ist typisches Piratenbild: verletzt und zugleich von bedrohlicher, auch phallischer Gewalt › eine Ambivalenz, von der gerade auch die romantische Kunst spricht. Die Geistermannschaft besteht aus Gruselfiguren (Kostüme: Ursula Kudrna). Hier › und nicht nur hier › zeigt Stölzl wie die romantische Bildsprache im Film weiterlebt. Das verdeutlichen Zitate in seinen eigenständigen, üppigen und kunstvollen Theaterbildern.

Es ist Sentas Blick, aus dem er Wagners Oper erzählt: Er zeigt die ganze Tragik dieser Frau auf. Subtil und genau inszeniert er den sich stetig steigernden Wahn. Zuerst kann Senta den Wahn noch in Grenzen halten, sich in der äusseren Realität bewegen. So holen am Morgen die putzenden Dienerinnen mit Gouvernante, die Stölzl schlüssig und mit Raffinesse an die Stelle der spinnenden Mädchen setzt, aus ihrer Holländer-Vision heraus. Die junge Senta flieht mit ihrem Buch unter den Tisch. Das war noch die junge Senta (Gaby Haas). Unter dem Tisch hervor kommt nun die Senta-Sängerin Kirsi Tiihonen. Stölzl bedient sich hier nicht nur eines cleveren Theatertricks: Er erzählt damit wie das Kind in der nun älteren jungen Frau weiterlebt.

In ihrer Vision idealisiert Senta ihren Vater, er ist es, der ihr den Holländer zuführt. Er verspricht ihr seine Tochter als Frau und Erlöserin, weil der Untote ihm dafür eine Schatztruhe schenkt. Die Realität ist eine andere. Ihr Vater will sie an den erstbesten Reichen verschachern, das verdrängt sie in ihrem Wahn. Auch der sie liebend naive Erik kann dagegen nichts ausrichten. Der Schwärmer, ein Abbild des lyrischen Ich in Franz Schuberts «Winterreise», ängstigt sich vor der Holländer-Figur, träumt, wie sie Senta in Besitz nimmt und sie mit sich führt › hinaus aufs Meer: Stölzl schafft ein von Friedrich inspiriertes berückendes Traumbild. Der Traum stürzt Senta jedoch noch tiefer in ihren Wahn, sie liest ihn als Zeichen für des Holländers Existenz und die Bedeutung ihrer Liebe.

Wenn ihr dann der Vater einen fetten alten, unbekannten Reichen als Mann aufzwingt, nimmt sie der Wahn in Besitz. Sie imaginiert sich im Liebesduett, dass der Holländer ihr Künftiger sei. Stölzl verdoppelt dazu im Bild den Bibliotheksraum: Hier sieht sich Senta als Mädchen dem Holländer in die Arme fallen. Die Szenerie ist von grosser suggestiver Kraft.
Im dritten Akt ist es die besoffene Hochzeitsgesellschaft, die den Seemannschor singt. Sie verspottet die apathisch gewordene Senta, zerreisst ihr Holländer-Buch. Hier verliert sie noch den letzten Bezug zur Realität und flieht vollends in den Wahn: Aus dem im eisigen Meer versunkenen Schiff (Nochmals ein Friedrich-Bild) steigen die Geister-Seemänner und bringen gemeinsam mit der Schwert führenden Senta die Gesellschaft um. In der Realität erschlägt sie in ihrem Wahn ihren Gatten. Um nun ganz mit ihrem Holländer eins zu sein, nimmt sie sich ihr Leben.

Philipp Stölzl entwickelt seine Theater-Erzählung mit erstaunlicher Genauigkeit und grosser Bildkraft, verknüpft geschickt und ohne inhaltlichen Bruch die Ebenen von Sentas Wahn und der äusseren Realität. Das ist einmal höchst spannendes Musiktheater. Auch der Rückgriff auf die Romantik überzeugt. So lotet Stölzl den Gehalt von Wagners Oper bis in ihre Entstehungszeit aus. Zudem gewinnt er der romantischen Bildsprache frappierende Facetten ab, schält beeindruckend die in ihr implizierte Abgründigkeit heraus.

In seiner genauen, die Charaktere verdeutlichenden Personenführung führt er über das 19. Jahrhundert hinaus. Und wie er Sentas Verlorenheit, ihren Sturz in Wahn und Verzweiflung ausleuchtet, hat eine erschütternde Gegenwärtigkeit › obwohl Senta in ihrem weissen Kleid und mit ihrem irren Blick an Bilder aus der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts erinnert. So gelingen Stölzl berührende kunstvolle Bilder. Das Üppige an ihnen ist dabei nicht Selbstzweck, sondern Erzählmittel.

Stölzls Theaterkunstwerk lebt auch von den engagierten Sängerdarstellern, die schauspielerische und sängerische Höchstleistungen vollbringen. Der Bass-Bariton Alfred Walker gestaltet mit seinem düsteren, zugleich agilen Gesang das Unheimliche in der Holländer-Figur. Als Schwarzer, der ganz schwarz gekleidet ist, unterstreicht er noch das Fremde, Exotische der Figur. Kirsi Tiihonen gibt die Senta mit hoher Intensität, sie spielt sowohl das Kindliche, der nicht erwachsen gewordenen Frau, wie den von ihr Besitz nehmenden Wahn ergreifend. Sie verfügt über einen schönen, kraftvollen, nie forcierenden Sopran. Grossartig auch Liang Li als Vater Daland, mit mächtigem Bass charakterisiert er facettenreich den diktatorischen Vater. Tenor Thomas Piffka spielt gut den Schwärmer Erik, hat gerade in den lyrischen Passagen schöne Momente, im Forte aber stösst er an seine Grenzen und forciert. Rita Ahonen ist als Mary ganz die verklemmte Gouvernante. Brillant singt der Basler Theaterchor. Ob er Seemänner, Bürger oder Dienerinnen mimt, stets tut er dies mit packender Lebendigkeit und mit Verve.

Dirigent Friedemann Layer entfaltet - Stölzls Inszenierung entsprechend - die ganze Dramatik aus Wagners Partitur, von ihren zarten Lyrismen bis zum den Saal erschütternden Blech. Obwohl die Forte richtigerweise aufreibend und kantig klingen, dürfte Layer da vielleicht doch etwas an Lautstärke zurücknehmen. Jedenfalls lässt auch er die Spannung nie einbrechen, macht das Rohe in Wagners Musik hörbar, reisst Abgründe auf und weiss der Musik auch viel Seele zu geben. Erfreulich, wie ihm dabei das Sinfonieorchester Basel mit Bravour und Souplesse im Spiel folgt.

Die Sparte Oper des Theaters Basel kann mit der neuen Produktion des «Fliegenden Holländers» einen grossen Erfolg feiern. Das Premierenpublikum jubelte.