Senta als verkaufte Braut

Benjamin Herzog, KlassikInfo.de (20.01.2009)

Der fliegende Holländer, 18.01.2009, Basel

Philipp Stölzl inszeniert den «Fliegenden Holländer» am Theater Basel

Wunschtraum und Realität werden in der romantischen Oper gerne gemischt. Der Film- und Opernregisseur Philipp Stölzl («Nordwand») hat es mit seiner Inszenierung von Richard Wagners «Fliegendem Holländer» geschafft, die beiden Bereiche strikt zu trennen. Ohne Substanzverlust. Im Gegenteil.

Es ist Nacht. Zur Ouvertüre schleicht sich ein in Unterwäsche gekleidetes Mädchen in den riesigen Salon. Aus einem der wandhohen Bücherregale holt es sich seinen Lieblingsschmöker und liest: die Geschichte vom zu ewiger Fahrt verdammten Kapitän, dem «fliegenden Holländer». Das Basler Sinfonieorchester unter der Leitung von Friedemann Layer lässt die Wogen hochgehen. Volle Fahrt voraus lautet die Devise an diesem Abend - die Ruhepole treten umso deutlicher hervor. Das Orchester also stürmt, und das Mädchen, es ist Senta, räkelt sich mit seinem Buch auf dem Schoss im Sessel. Die im Wortsinne romantische Fantasie über einen furchterregenden, attraktiven Käpt'n und seine Erlösung durch die Liebe wogt sichtbar in dem Teenager.

Aus welchem Leben Senta mit Lektüre flüchtet, welche Zukunftsperspektive als Frau im 19. Jahrhundert sie so zu umgehen versucht, zeigt dann der zweite Aufzug: Senta wird ins Korsett verschürt. Die (bei Wagner) Spinnerinnen sind hier eine Schar bienenfleißiger, herumwedelnder Hausmädchen. Einschnürung oder Putzwedel - soll das Leben sein?

Wie nun ein Geisterschiff in den Hafen dieser selbstgerechten bürgerlichen Realität eindringen lassen? Entscheiden sich die meisten Regisseure entweder für das Hier oder das Dort, so zeigt Stölzl beides. Die «Holländer»-Geschichte spielt sich in Sentas reger Fantasie ab (was natürlich nicht neu auf der Opernbühne ist). Sichtbar gemacht werden ihre Träume in einem überdimensionalen, den Salon dominierenden Bild: dem Bild des Holländers, das - Stölzl mogelt nicht - im Libretto öfters erwähnt ist.

Es wird viel gezaubert in Basel. Die Leuchter flackern, das Kaminfeuer glüht rot und zwischen den gemalten Wogen erscheint das schon von Algen überzogene Schiff mit dem dunkelhäutigen Holländer. Sentas Vater Daland, exzellent besetzt mit Liang Li, verkauft seine Tochter - ein genialer Kniff - nicht an den reichen Geistermann, sondern an einen stummen, als Rolle dazu erfundenen, Dickbauch. Dieser sitzt unbeweglich auf dem Sofa, während die verkaufte Braut «ihrem» Holländer im Bilderrahmen das Treueversprechen gibt. Dort, das heißt in ihrer erotischen Fantasie, sinkt sie (als Double) dem wilden Mann in die Arme. Hier, im Salon, steht sie völlig alleine da mit ihrer Verzückung. Das Duett mit dem Holländer (kräftig, warm timbriert: Alfred Walker) ist ein schizophrenes Singen über die Realitätsgrenzen hinaus. Man ahnt, dass Senta kurz vor dem Verrücktwerden ist.

Konsequent fokussierte Stölzl auf seine Protagonistin. Mit der Finnin Kirsi Tiihonen hat man in Basel eine Senta gefunden, die sich im Lauf der gut zwei Stunden immer mehr in die Verausgabung, die Ekstase hineinsang. Etwas kurzatmig noch die berühmte Ballade, schliesslich aber drang das Sehnen halb lust- halb schmerzvoll aus dieser Senta, dass es einem unter die Haut ging.

Im dritten Aufzug sieht man sie dann aufgedunsen, schwankend mit Flasche, das geliebte Buch noch immer stets zur Hand. Die Ehe: ein Desaster. Sentas Fantasie: zerstörerisch. Das Erlösungsmotiv, so schön mild es das Englischhorn bläst: es schmerzt. Erik in Ärmelschonern (der trotz schöner lyrischer Qualitäten etwas eng singende Thomas Piffka) hat seinen letzten Auftritt. Wäre dieser Buchhalter nicht doch die bessere Alternative gewesen? Vielleicht: Senta legt sich zu ihm auf den Schreibtisch und verrät dabei ihren Traum. Fantasie und Realität geraten durcheinander, und das Geschehen neigt sich seinem katastrophalen Ende zu. Die Chöre, exzellent disponiert, veranstalten Bühnentrubel. Hier die satten, zufriedenen, stockbesoffenen Frackträger. Dort die wilden Holländer, die mit ihren Säbeln für Senta Rache nehmen.

Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Senta packt eine Flasche, erschlägt Erik und ihren langweiligen Mann und ritzt sich die Adern auf.

Statt den Holländer, hat sie sich selbst aus einem beengenden Frauenleben "erlöst".