Der Blaubart der Meere

Heinz W. Koch, Badische Zeitung (20.01.2009)

Der fliegende Holländer, 18.01.2009, Basel

Senta phantasiert. Aber welche Vertreterin der Partie hätte das seit Harry Kupfers unvergesslichem Porträt einer abendfüllend präsenten Hysterikerin (Bayreuth, 1978) nicht getan? Jetzt, in Basel, in Philipp Stölzls Inszenierung von Richard Wagners Oper "Der fliegende Holländer", erscheint die junge Senta alsbald mit einem Kerzenleuchter in der (für einen eher schlichten Seefahrer erstaunlich umfangreichen) väterlichen Bibliothek und greift zielsicher nach einem Folianten, in dem sie sich augenblicklich und nicht zum ersten Mal verliert. Die Sage vom Ahasver der Meere saugt sie förmlich in sich auf: ein Fall von Realitätsflucht, hinein in ein Parallelleben, ins Idealdasein einer schwärmerischen Kinderseele.

In der Mitte der rückwärtigen Bücherwand ein gewaltiger Bilderrahmen: Gischt darin, Felsbuckel – ein Seestück, die kindliche Phantasie nicht eben bremsend. Da hinein bohrt sich der Holländer-Segler, schrundig, verwittert, wie aus gehärtetem Schlamm gefügt, ein Einhorngebilde vorn, jahrhundertealt offenbar (Bühne: Stölzl und Conrad Reinhardt). Das Schiff des erträumt-ersehnten Mannes, der dazu verdammt ist, die Ozeane zu durchpflügen, und nur alle sieben Jahre den – ewig vergeblichen – Versuch unternehmen darf, die Frau zu finden, deren unverbrüchliche Treue ihn von seinem Leid erlöst. Dem Kind verwischen sich die Ebenen. Die Gestalten der Meeressphäre dringen in den schummrig beleuchteten Salon mit seinen Kronleuchtern ein. Der anfangs kaum zu ortende Holländer – eine (Traum-)Abspaltung von Sentas Vater Daland, ihrer bis dato einzigen männlichen Bezugsperson? Optische Rätsel, neue Legenden, dem Dunkel entwachsend.

Nachher, von Akt II an, ist das häusliche Ambiente der profane Alltag mit der Fege- und Schrubbkolonne statt Wagners Spinnerinnen, mit der besoffenen Hochzeitsgesellschaft, die Sentas vergötterte Lektüre verständnislos zerfleddert, mit ihrem buchhalterisch-pedantischen Dauerbewerber Erik, einem Jammerlappen, der nur den Gedanken an sich selber kennt, und – dies vor allem – mit dem spitzbäuchigen, Zigarren paffenden Senior-Freier, den der Vater ihr statt des Sagenhelden des Librettos zuführt. Ihn, den Holländer, erblickt sie fortan im bewegten Bild dort oben, und ihr Kinddouble ist immer näher bei ihm, an ihm, mit ihm fast verschmelzend – das erträumte richtige Leben im falschen.

Am Ende brät Senta Erik wie ihrem Galan mit der Flasche eins über. Mit deren Scherben ritzt sie sich im zweiten Anlauf zu Tode. Die Felsen im Bildrahmen nehmen die Form von Caspar David Friedrichs "Gescheiterter Hoffnung" an, und dem Schiffsverlies entsteigen des Holländers frühere Beinahe-Frauen, nach dem Zeitläuften der Mode gewandet (Kostüme: Ursula Kurdna) – er, ein Blaubart der Meere. Das Stück Offenbach in Wagner.

Stölzl, dem Video-Clipper, dem "Nordwand" Filmer, der nach Berlioz‘ "Benvenuto Cellini" in Salzburg und Gounods "Faust" in Basel erstmals an Wagner geriet – Stölzl gelingt eine hochspannende, mitunter aufregend spekulative, erfindungsreiche "Holländer"-Variante. Ihm geriet – gewiss doch – außerordentlich unterhaltsames Musiktheater, dessen Autor auch Edgar Allan Poe heißen könnte. Seltsam nur, dass ihm immer wieder irritierend konventionell gestellte Standardsituationen unterlaufen. Oder: konterkarierende Absicht? Doch eher nicht. Und: Dieser aller Verklärung entkleidete Ausklang mit dem alles verklärenden chromatischen "Tristan-Schluss" von 1860 statt dem schmucklos-harten Ur-Finale von 1843 – ein Fehlschritt? Oder: die Dialektik eines ironischen Kontrapunkts?

Bei aller – gelegentlich verwirrenden und zwei Augen und Ohren überfordernden – Ereignisfülle: Die Musik wird nie bedrängt. Ihre Rechte werden nicht, wie sonst oft, beschnitten. Erneut am Pult des Sinfonieorchesters Basel: Friedemann Layer, zum zweiten Mal Generalmusikdirektor in Mannheim. Er peitscht die instrumentalen Wogen mächtig auf. Das Unwetter pfeift und kracht. Die Gespanntheit des Beginns verflüchtigt sich später ein wenig. Ein straffes, konturenscharfes, im Stimmengefüge aufgehelltes, dabei unprätentiöses Musizieren bleibt es gleichwohl.

Dass der Regisseur überhaupt ein derart riskantes Konzept ins Auge fassen konnte, hängt auch mit Identifikationsbereitschaft der Basler Sänger zusammen. Vorneweg Alfred Walker: ein dunkelhäutiger Holländer mit silbernen Handprothesen, fast schon eine magische, eine Kultgestalt, dazu ein satter Bassbariton von größtem Ambitus, blendender Diktion, eine Bronzestimme, die dunkel glühend auftragen und sich bis in die Höhen geradezu belkantistisch verströmen kann. Vokale Extraklasse.

Am nächsten kommt ihm der Daland des Liang Li, dessen prägnanter Bass von einem schimmernden Kern profitiert. Im Balladen-Pianissimo noch etwas unentschieden und zunächst etwas monochrom, steigert sich Kirsi Tiihonens Senta immer mitreißender in ihre hochdramatischen Exaltationen hinein. Die beiden Tenöre schließlich: Thomas Piffkas Erik, der Jäger mit spießigen Ärmelschonern, bleibt trotz einigem Glanz uneinheitlich, und Karl-Heinz Brandts Steuermann müsste seine feine, leichte, oratorienhafte Stimme nicht unter Druck setzen. Nachher: Alles jubelt, kein Einwand.