Pikdame mit zwei ungleichen Gesichtern

N. N., Der Landbote (02.02.2009)

Pique Dame, 31.01.2009, St. Gallen

Geschlossen düstere Räume prägen die St. Galler «Pique Dame»-Inszenierung zwar einseitig, aber im Einklang mit der musikalischen Intensität der Aufführung.

Wenn Leidenschaft die Domäne der Oper ist, so ist «Pique Dame» die Superoper. Denn hier geht es um die Leidenschaft in der gesteigerten Form der Obsession. «Krank vor Liebe» bedrängt der junge Offizier Hermann Lisa, die junge Frau, die – nicht eben glücklich – gerade mit Fürst Jeletzky verlobt wurde. Mit ihr durchbrennen oder sterben wird zu Hermanns fixer Idee. Zur fixen Idee wird auch, das nötige Geld dazu im Spiel zu gewinnen. Er dringt in die Gemächer der alten Gräfin ein, von der es heisst, sie kenne das Geheimnis der drei Karten. Doch stirbt die Gräfin vor Schreck. Als sie ihm später als Geist erscheint und ihm das Geheimnis verrät, gibt es kein Halten mehr. Statt mit Lisa, die auf ihn wartet, zu fliehen, eilt er ins Casino. Aber die dritte Karte ist nicht das Ass, sondern die Pikdame, Hermann verliert alles und erschiesst sich.

Geradezu obsessiv hat Tschaikowsky die letzte grosse Oper in weniger als drei Monaten des Jahres 1890 in Florenz komponiert, und es gibt viele Äusserung, die seine Identifikation mit dem Schicksal seiner Figuren und seine Erschütterung bezeugen. Zu spüren ist diese in einer irrlichternden Musik, die soghaft eine albtraumhafte Dynamik entfesselt – die Nähe zur «Pathétique», der im Todesjahr 1893 entstandenen 6. Sinfonie, die Tschaikowskys «Requiem» wurde, ist unüberhörbar. Unüberhörbar auch in der vom jungen ukrainischen Dirigenten Andrij Yurkevich geleiteten St. Galler Premiere, die konturenhaft in expressiven Soli, rhythmischen Ostinati und fiebrigen Ausbrüchen an Eindringlichkeit nichts zu wünschen übrig liess.

Intime Psychologie

Die Biografie des Komponisten verzeichnet in der Beziehung zu Frauen nur ein kurzes Eheintermezzo als tragischen Irrtum eines homoerotisch veranlagten Menschen, und die geheimnisvolle Beziehung zur Gräfin Nadeschda von Meck, die ihn finanziell unterstützte, aber nie kennen lernen wollte. Viel von der intimen Psychologie, die in dieser Oper steckt, verrät nun auf spannende Weise Christof Loys Inszenierung im Theater St. Gallen. Offensichtlich wird, dass Hermanns Interesse nicht nur dem Kartengeheimnis gilt, sondern der Gräfin selbst, die als Verführerin vor ihm steht, wenn auch im ganz und gar unerotischen Stützkorsett der alten Frau. Seine Obsession hat wenig mit Spielsucht zu tun, und viel mit der Beziehung zu den Frauen. Dass die Gräfin als Geist Hermanns Bett entsteigt, ist ein Schlüsselmoment der Inszenierung, und am Ende der Oper, wenn Hermann im halluzinierenden Abgesang Lisa und die Gräfin als Anwesende erlebt, stehen sie als die zwei schwarzen Bräute seines Seelenlebens auf der Bühne, spiegelbildlich und doppelt wie auf einer Spielkarte die Pikdame.

In dieser Entschlüsselung entfalten zumal der zweite und dritte Akt grosse Intensität. Schade, dass sich die Inszenierung dem ersten Akt partiell verweigert. Die Oper nimmt sich hier viel Zeit, um ein Gesellschaftsbild zu malen, aus dessen musikalisch-nostalgisch verbrämter Oberfläche das fatale Geschehen und «die Musik des Grauens» (Leos Janácek) nur umso verstörender hervorbrechen. Unter anderem ist die erste Szene überhaupt gestrichen. Die Szene der Offiziere ist in eine Garderobe verlegt, wo dann der verbleibende Rest der Volksszene deplatziert und auf kleiner Spielfläche zusammengepresst wirkt. Als Stilbruch und wiederum beengend erweist sich auch die Anlage des zweiten Aktes mit dem Barocktheater im spröden Raumkonzept von Herbert Murauer, das seine Stärke in der Wirkung als düsterer Seelenraum besitzt.

Packendes Ensemble

Erst beim Schlussapplaus sah man eigentlich, welchen Personalaufwand das Theater mit Chören und Statisterie leistet; was man an Klangpräsenz gehört hatte, verdiente dagegen den grossen Applaus. Von der Tiefenschärfe der Personenführung profitieren die Protagonisten im Ensemble. Es besticht durch eine ganze Reihe profilierter Darsteller von Nebenpartien, darunter zumal mit Soloszenen Roman Ialcic als Graf Tomsky und Katja Starke als Polina.

In den Hauptpartien beeindrucken David Maze, der sensibel zur generösen baritonalen Linie für den Fürsten Jeletzky findet; Juremier Vieira, der in lyrischen Passagen mit tenoraler Wärme agiert und in der Schlussszene auch als dramatischer Darsteller über sich hinauswächst. Eva Gilhofer verleiht der Gräfin die gruftige und seltsam anmutige Aura, und die hervorragende Inna Los verkörpert mit makellos schönem und bis in die Spitzen dramatisch beachtlich steigerungsfähigem Sopran eine jugendliche Lisa, berührend glaubhaft im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Ansprüchen und romantischen Versuchungen, an denen sie zerbricht.