Vom Spielteufel besessen

Bettina Kugler, St. Galler Tagblatt (02.02.2009)

Pique Dame, 31.01.2009, St. Gallen

Gute Karten hatte die Premiere von Tschaikowskys «Pique Dame» am Theater St. Gallen: Eine Regie, die alles richtig macht, trifft auf Sänger und Musiker, die emotional hoch pokern.

Es war die Nacht der kleinen Lotto-Hasardeure. 350 Millionen Euro lagen im Jackpot; der Traum vom sorglosen Leben war wieder einmal für ein Taschengeld zu haben. Deutschland suchte den Superglückspilz, und alle waren dabei – ohne gleich Kopf und Kragen zu riskieren.

Anders in der Seelen-Spielhölle, die sich in Peter Tschaikowskys schwerblütigem Opern-Melodram «Pique Dame» auftut; am selben Abend in der luziden Regie von Christof Loy, szenisch einstudiert von Freo Majer, am Theater St. Gallen zu erleben.

Hier geht es nicht um das kleine Glück, ein schmuckes Eigenheim oder die Reise in die Karibik, sondern um alles oder nichts. Nebenbei auch um den Beweis, wie wahr und packend Oper sein kann, wenn sie mit Kopf und Herz spielt, ob nun in Petersburg Ende des 18. Jahrhunderts oder in Provinzen der Innerlichkeit, jenseits von Dekor und Nippes.

Noblesse mit Grauschleier

Liebe, Reichtum, das Gute und Wahre, sein Seelenheil sucht der eigenbrötlerische junge Offizier Hermann aus Puschkins Novelle «Pique Dame» im Geheimnis der drei siegreichen Spielkarten, das die alte Gräfin aus ihren wilden Pariser Jahren in eine Zeit auf dem absteigenden Ast gerettet hat. «Ach, wie verhasst ist mir diese Welt!», klagt sie in der Schlüsselszene der Oper, «welche Zeiten! Sich vernünftig zu amüsieren haben sie verlernt. Welche Manieren! Welch ein Ton!»

Tatsächlich ist das Amüsement, das Christof Loy der dekadenten Bühnengesellschaft mit Spiel, Gesang und Tanz (Choreographie: Jacqueline Davenport) gönnt, ob nun beim Ball oder im Mädchenzimmer rund um Klavier und Ballettstange, in seiner Inszenierung von einem permanenten Grauschleier überzogen – selbst wenn sie sich im zweiten Akt prachtvolle Rokokokleider überwirft und an Schäferspielen ergötzt.

So ästhetisch die Ausstattung von Herbert Murauer auf den ersten Blick anmutet, mit tiefroten Wänden um einen Einheitsraum, in dessen Mitte sich bühnenartig ein Podest erhebt, so wenig willkürlich ist sie in ihrer Reduktion. Gespielt wird nicht im Grünen, nicht in Boudoirs, Salons und Casinos, auch nicht an der nächtlichen Newa, sondern in einer gespenstisch einförmigen Geisterwelt der Obsessionen.

Hier wankt Juremir Vieira als Hermann fahrig und mit trotzig heldischem Unterton zwischen zwei Bräuten hin und her. Die eine, Lisa, ist bereits vergeben, die andere, ihre Grossmutter, könnte Hermann als letztem Liebhaber noch einmal in die Trumpfkarten des Schicksals blicken lassen. Beide werden geopfert, beide lässt Loy zur finalen Doppelhochzeit um den Spieltisch geistern – in einer szenischen und musikalischen Verdichtung, die das Blut gefrieren lässt.

Spiel im Spiel

Der Spielteufel hat nicht nur Hermann im Griff: Auf subtile Art enttarnt die Regie alle handlungstragenden Charaktere als heillose Spielernaturen und verbindet Chor und Ensemble in einer teuflisch ausgefeilten, spannenden Partie. Da sind, was noch nicht sonderlich überrascht, die Kameraden der Offiziersclique, zu Beginn bei der flüchtigen Morgentoilette zu sehen, in Gedanken jedoch schon wieder beim Kartenklopfen. Nicht nur die zottelige Einheitsmähne der Uniformträger legt nahe, dass sie sich im Wesen gleichen und das Schicksal an Hermann lediglich ein Exempel statuiert. Wort- und Spielführer in diesem Kreis ist Tomsky, dem Roman Ialcic stimmlich wie darstellerisch eine imposante Statur gibt – bis zur harschen Anzüglichkeit im letzten Akt. Im nahezu perfekt ausgereizten Spiel im Spiel übernimmt er die Rolle des Regisseurs, im Schäferintermezzo springt er selbst in die Rolle des Geldgottes Pluto: Gerade das Maskentheater offenbart in diesem Moment gnadenlos, wer wohin getrieben wird.

Zwischen die Karten geraten

Geisterhaftes Zentrum ist Eva Gilhofer als Gräfin und legendenumrankte Spielerin. Kunstvoll entblösst ihre Stimme die Brüchigkeit eines bewegten Lebens; ihre Figur schillert zwischen Stolz und Schamlosigkeit. Damit ist sie der Gegenpart Lisas, der Inna Los eine zarte, kindliche Ausstrahlung verleiht – um dann in der kraftvoll-lyrischen Durchdringung ihrer Partie keine Wünsche offen zu lassen. Die Opferrolle wäre zu klein für sie; auch Lisa pokert, fordert das Schicksal heraus.

Wider Willen spielt Jeletzky (David Maze) mit, den sie heiraten soll. Am Ende trägt er Sieg und Niederlage zugleich davon und wahrt mit noblem Bariton die Fassung – ein Mensch, der zwischen die Karten geraten ist und dem der letzte Trumpf gleichwohl kein Glück bringt.

Tschaikowskys Trümpfe

Der Musik aus dem Orchestergraben lässt die Regie reichlich Bewegungsfreiheit, sich als vielschichtiger Kommentar ins Spiel zu bringen, am Puls der Figuren zu horchen und das Publikum ins Geschehen zu verstricken. Tschaikowskys spielerisches Kalkül mit Stilzitaten kommt dabei neben der überbordenden Emotionalität und der dramatischen Verdüsterung gut zur Geltung. Noch bevor sich der Vorhang hebt, lässt Andriy Yurkevych am Pult des Sinfonieorchesters St. Gallen die Tiefen des Abgrunds ahnen, die sich an diesem Abend für die Figuren auf der Bühne auftun werden.

Unmöglich, sich dabei im Zuschauerraum bequem zurückzulehnen und schadlos am Rande zu halten.