Ein Fest der Charakterlosigkeit, durch Kunst gebändigt

Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (16.02.2009)

The Rake's Progress, 14.02.2009, Zürich

Premiere von Igor Strawinskys «Rake's Progress» im Opernhaus Zürich

Hauptdarsteller in der jüngsten Produktion des Opernhauses Zürich ist ein grossformatiger Fernsehschirm, wie er heute in vielen Haushalten steht. Was darauf zu sehen ist, bildet eine eigene Erzählung, die das Geschehen auf der Bühne kommentiert, kontrapunktiert, ja eigentlich erklärt. Denn Martin Kušej geht auch hier, in seiner für das Wiener Theater an der Wien entstandenen und nun nach Zürich weitergereichten Inszenierung von Igor Strawinskys Oper «The Rake's Progress», eigene Wege. Das Stück aus den Jahren 1947 bis 1951 spielt nicht im England des 18. Jahrhunderts, sondern schlicht und einfach heute. Und sein Thema ist nicht die von William Hogarth in seinen Kupferstichen von 1732/33 angeprangerte Libertinage, es ist vielmehr jenes Streben nach Reichtum, Lust und Berühmtheit, das uns die Massenmedien allabendlich in immer wieder neuen Ausprägungen vorgaukeln.

Neoklassizismus mit Leben

Jedenfalls: Tom Rakewell und seine Freundin Anne Trulove liegen in einem von Annette Murschetz nicht gerade opulent ausgestatteten Zimmer einer nicht eben grossartigen Mietwohnung auf der Matratze und tun, was sie immer tun nach dem Lieben: fernsehen. Vater Trulove (Alfred Muff), den die Kostümbildnerin Su Sigmund als einen recht ordentlichen Spiesser herzeigt, könnte seinem Schwiegersohn in spe zwar eine gute Position vermitteln, doch Rakewell hat andere Pläne – und was für welche, das erklärt ihm bald der aus einer Versenkung aufsteigende Nick Shadow, der von Strawinsky zusammen mit seinen Librettisten Wystan Hugh Auden und Chester Simon Kallmann in die Geschichte von William Hogarth eingefügte Mephistopheles.

So geht es bald auf und davon nach London, wo die Geldangelegenheiten zu regeln wären, wo aber rasch die Sünde lockt – und da mussten in der für sie geöffneten Probe die Damen und Herren Fotografen ihre Kameras einpacken und rasch nach draussen gehen. Der zweite der drei Akte zeigt Rakewell nämlich im Bordell von Mother Goose (Kismara Pessatti), und dort wird der Regisseur wörtlich. Da dürfen die Damen ihre feine Rasur herzeigen und die Herren ihre baumelnden Dinger – ach, wie aufregend. Und da ist natürlich auch die Videokamera zur Stelle, mit deren Hilfe sich manches etwas näher heranzoomen lässt – huch, wie schockierend, auch wenn es bloss die Gesichter sind.

Nicht dass es jetzt jugendfrei weiterginge. Rakewell hat bald genug von den Swingerklubs, in seiner Langeweile stürzt er sich erst in den Swimmingpool, der im hinteren Teil der Bühne eingerichtet ist, doch dann vermittelt ihm Shadow alias Mephisto die folgenreiche Begegnung mit Baba, der Türkin (Michelle Breedt). Bei Strawinsky trägt diese hermaphroditische Erscheinung vom Jahrmarkt einen Bart, bei Kušej natürlich keinen, dafür tritt sie im Fernsehen auf und lässt sie, wenn auch nur ganz kurz, ein mächtiges Prachtsstück zwischen den Beinen sehen. Indessen hat Rakewell auch davon bald genug – doch folgt dann erst einmal die Pause, und die ist, wie stets im Opernhaus Zürich, grosszügig bemessen. An der Premiere gab es an dieser Stelle ein lautes Buh und ein lautes Bravo, im Übrigen hielt sich der Wellenschlag in Grenzen.

Das ist verständlich. Denn der szenische Ansatz hilft dem Stück nicht auf die Beine, es bleibt eine neoklassizistische Harmlosigkeit. Und das, obwohl mit Thomas Adès, dem britischen Komponisten, Pianisten und Dirigenten, der an die Stelle von Nikolaus Harnoncourt getreten ist, ein Musiker am Pult waltet, der sich Strawinskys Partitur mit Haut und Haar verschrieben hat. Ausgesprochen gestenreich führt er den von Ernst Raffelsberger vorbereiteten Chor und das aufmerksam agierende Orchester der Oper Zürich durch das Werk, und immer wieder gelingt es ihm, dem mit Zitaten älterer Musik arbeitenden Notentext Leben einzuhauchen.

Er tut es in jener Weise, die Strawinsky selbst bei der (spieltechnisch alles andere als geglückten) Uraufführung vom 11. September 1951 in Venedig vorgestellt hat – und die jetzt als ein hochinteressanter Live-Mitschnitt auf Compact Disc greifbar ist. Wie der Komponist am Dirigentenpult legt sein Nachfolger das Gewicht auf den Ausdruck und damit paradoxerweise jenes Espressivo, das Strawinsky selbst als Theoretiker in der radikalsten Weise abgelehnt hat.

Ein Leben jenseits des Neoklassizismus?

Ganz natürlich fügen sich in der Zürcher Aufführung die Anklänge und Zitate ineinander, finden sie zu eigenem Leben; und sanft wird man von Adès, der sich «The Rake's Progress» jüngst für eine Produktion an der Königlichen Oper von Covent Garden in London erarbeitet hat, an der Hand genommen und durch ein reizvolles musée imaginaire geführt. An dessen Wänden hängen freilich keine Originale, sondern lauter Kopien, bei denen man sich nach der Art eines Rätselspiels fragen kann, worauf sie sich beziehen.

Dabei herrscht, weil Adès mit so viel Impetus in die Partitur hineinkniet, warmes, pulsierendes Leben – insofern kann man die Komposition an diesem Abend ein wenig neu entdecken. Entscheidenden Anteil daran haben die Protagonisten, allen voran Shawn Mathey mit seinem klangvollen Tenor in der Partie des Tom Rakewell. Dank seinem kernigen baritonalen Timbre zeichnet Martin Gantner ein profiliertes Porträt des Strippenziehers Nick Shadow, der am Ende ganz nach der Art von Mozarts Don Giovanni in jenem Orkus verschwindet, dem er zu Beginn entstiegen ist. Und überaus reizvoll, zugleich aber fern jeder Sentimentalität, wirkt die Sopranistin Eva Liebau mit dem hellen Ton und den vielen Farben ihrer Stimme als Anne Trulove.

Allein, das Werk ist nicht zu retten – das zeigt der zweite Teil des Abends, in dem die Versteigerung von Rakewells Hausrat mit dem Auktionator Sellem (nicht Thomas Gottschalk, wie es den Anschein hat, sondern Martin Zysset) einen Höhepunkt bildet. Das Ende bis hin zur Moral von der Geschicht zieht sich zunehmend in die Länge, woran auch diese entschieden zupackende, ideenreiche Produktion nichts zu ändern vermag. Kein Wunder, hat sich Strawinsky mit diesem Stück vom Neoklassizismus verabschiedet und sich der Zwölftonmusik zugewandt.