Einer muss den Kopf hinhalten

Christian Berzins, Mittelland-Zeitung (16.02.2009)

The Rake's Progress, 14.02.2009, Zürich

Martin Kusej zeigt in «The Rake’s Progress», wie das Fernsehen der grosse Verführer unserer Zeit ist. Viel Applaus, kaum Buhs für die Sexszene.

«Kein Zutritt unter 18 Jahren» bei derselben Inszenierung in Wien vor drei Monaten, Subventionskürzungs-Drohungen in Zürich › Sodom und Gomorrha im Opernhaus? Tumulte? Flyer-Aktionen der EVP? Nichts dergleichen.

Als nach dem berüchtigten zweiten Bild von Igor Strawinskys (1882›1971) Oper «The Rake’s Progress» der Vorhang fiel, gabs in Zürich am Samstagabend matten Applaus, in den sich einige heftige Buhs mischten. Als es wieder still war, folgte ein herzhaftes, mit Lachen und Applaus kommentiertes «Bravo», das mit einem dröhnenden Buh gekontert wurde. Die Mehrheit der Zürcher Opernfreunde liess sich aber von zehn Nackten, denen keine hautfarbenen Stoffe ein theatrales Feigenblatt gaben, nicht beirren. Oder waren die lichteren Reihen nach der Pause der Zürcher Kommentar darauf?

Warum überhaupt die explizite Szene? Regisseur Martin Kusej versetzt Strawinskys Oper «The Rake’s Progress» («Der Aufstieg des Wüstlings») in die Zürcher Gegenwart: Er zeigt das Fernsehen als Verführer der Massen, zeigt, wie dumm und naiv die Sehnsucht nach Reichtum, Berühmtheit und Glück sein kann. Obwohl sich Tom Rakewell, der Titelheld der Oper, in seiner kleinen Welt mit seiner Anna, Pizza, Joint und Bier wohl zu fühlen scheint, wünscht er sich viel Geld . . . und schon klingelt es an der Tür: Schwupps kriecht aus der «Pizza Diavolo»-Schachtel ein moderner Mephisto hervor. Dieser Nick Shadow führt Tom in die TV-Welt ein.

Sozialer Aufstieg ist hier gleichbedeutend mit einem Eintrittsticket zu Casting- und Samstagabend-Shows. Tom wird von dieser Maschinerie aufgesogen, muss das vermeintliche Glücksprogramm abspulen. Also heisst es zu Beginn: Ab ins Bordell!

In Wien hatten wegen dieser Szene Jugendliche unter 18 Jahren keinen Zutritt ins Theater erhalten. Unverständlich ist der Entscheid nicht, auch wenn Kusej das unnötige Rudelbumsen als ein kunstvolles Tableau vivant inszeniert. Nick Shadow zeichnet die Aktivitäten der Sexartisten mit der Handkamera auf. Dieser Mephisto weiss: Jeder Dreck ist fürs Fernsehen pures Gold. Im Lauf der Handlung wird auch Toms Geliebte Anna bei Vortrag eines rührenden Liedchens per Zufall gefilmt, bejubelt und vom Spass-Betrieb aufgesogen. Und spielt gekonnt mit. Toms Reise hingegen, auf der er von Bier und Joint zu Champagner und Kokain wechselt sowie anstelle seiner geliebten Anna eine mediengeile Transsexuelle heiratet, endet im Wahnsinn.

Wie es Kusej schafft, den eiskalten Glanz der Glamourwelt aufs wankelmütige Herz Tom Rakewells zu drücken, ist trotz einigen zähen Szenen eindrücklich. Sogar für das merkwürdige Anhängsel, den moralgeschwängerten Epilog, findet Kusej ein starkes Bild: Bei «Aeschbacher» sitzen die Helden im Studio und erzählen von ihren Erfahrungen. Die TV-Welt ist mit aller Konsequenz auf die Opernbühne gebracht › die Illusionen der Plüschwelt in kalte Realität verwandelt.

Trotz parabelhaften Zügen kann auch diese Oper als Illusionsfabrik funktionieren, das Mitgefühl gross und grösser werden. Allerdings gelingt das nur, wenn die Rollen gut besetzt sind.

Eva Liebau mag vom Typ her der Rolle der Anna entsprechen, ihre Stimme lässt viele Wünsche offen. Bei ihrem Vater (Alfred Muff) stimmt beides überein. Und Michelle Breedt als Türken-Baba bringt Schwung in den Abend. Shawn Mathey (Tom) und Martin Gantner (Nick) singen technisch überaus gekonnt, aber eine spielerische Leichtigkeit, die auch mal einen ironischen Ton trifft, fehlt beiden.

Gewiss, das Spiel mit der Ironie ist heikel. Will Strawinsky berühren? Oder verlangt er die ironische Brechung? Dirigent Thomas Adès tendiert eher zum Gewöhnlichen: Er sucht die Emotion, die Schönheit, die Rührung › und findet sie. Und so entsteht zum bunten Treiben auf der Bühne ein ernster Untergrund.

Wer will, sieht das Ganze nun parabelhaft: Der Kern der Oper, ihre Musik, bleibt ernst, die Szenerie passt sich der Fernsehwelt an.