Der Wüstling steigt und fällt in der Fernsehwelt

Thomas Meyer, Tages-Anzeiger (16.02.2009)

The Rake's Progress, 14.02.2009, Zürich

Kein Skandal, dafür viel Applaus: Martin Kusejs Aktualisierung von Igor Strawinskys «The Rake’s Progress» wurde im Opernhaus zu Recht gefeiert.

Fast wie bestellt mischte sich am Samstagabend ein einsamer Buhrufer in den Applaus und provozierte so bereits nach dem zweiten Bild Bravos. Am Schluss blieb er ganz ohne Resonanz, als die Zustimmung ungeteilt war. Zürichs Opernpublikum, oft als konservativ bezeichnet, erwies sich als mündig und goutierte die ungewöhnliche Umsetzung von Igor Strawinskys letzter Oper durch Regisseur Martin Kusej. Dies, weil sie nicht um des oberflächlichen Skandals willen entstanden, sondern durchdacht war. «The Rake’s Progress», diese Geschichte vom Aufstieg und jähen Fall des Wüstlings Tom Rakewell, ein Sittenbild aus dem unmoralischen London des 18. Jahrhunderts, gestaltet nach satirischen Kupferstichen von William Hogarth, wurde radikal in die Zürcher Gegenwart transferiert.

Für fünfzehn Minuten ein Star sein

Vorausgeeilt war der Koproduktion nach der Premiere im Theater an der Wien im vergangenen November der Ruf des Skandalösen. Vor allem der Bordellszene wegen, die in einen Swingerklub verlegt wird und in der nackte Statisten in verschiedensten Stellungen kopulieren, wurde die Aufführung sogar unter Jugendschutz gestellt: Zutritt erst ab 18 Jahren. Eine Überreaktion: Die Armseligkeit solchen Treibens liesse sich kaum besser zeigen als durch diese triste Sexszene, die mit einer Digitalkamera aufgenommen und sofort auf den Bildschirm übertragen wird.

Wie überhaupt das Fernsehen allgegenwärtig ist: der Ausverkauf der Gefühle als Sensation. Der Jahrmarkt, die Schaubühne des hogarthschen Dramas, wird so ins heutige Medium übertragen. Und das hat Tiefenwirkung: Alles spielt in dieser Inszenierung auf engem Raum, in einer kühlen Einzimmerwohnung (eingerichtet von Annette Murschetz), die Kostüme (Su Sigmund) sind die von heute; und alles möchte hinaus in die grosse Welt der Medien: für fünfzehn Minuten ein Star sein!

Kusej ist in Zürich mittlerweile der Mann für schwierige Libretti: Nach der «Zauberflöte» und Schumanns «Genoveva» macht er sich nun an den in seinen Augen «indiskutablen» Text von Wystan Hugh Auden und Chester Kallmann, aus dem er freilich doch ziemlich viel herausholt: «Ich finde es schlechte Literatur, die entscheidenden Szenen sind an den Haaren herbeigezogen, irgendwie hingebogen, damit die Situation funktioniert. Das ist theatralisch total schlecht und uninteressant und auch sehr schwer zu inszenieren.» Tatsächlich ist der Text trotz einigen hübschen Versen von bildungsbiederer Harmlosigkeit, erzählt wird zwar von einer schlechten Welt, aber die Librettisten tendieren eher zu poetischer Überhöhung, statt Klartext zu sprechen.

Das mag oberflächlich Strawinskys Musik entgegenkommen, verdeckt aber, dass der Komponist einige Schichten tiefer geht. So wäre also zu fragen, ob man nicht den ganzen Text umschreiben sollte. Das tut Kusej nicht, aber er deutet die Handlung einschneidend um: Die bärtige Türken-Baba mutiert zum schwanzschwingenden Hermaphroditen (Michelle Breedt singt nicht nur sprudelnd, sondern spielt auch sehr geschickt mit dem Voyeurismus des Publikums), der Auktionator wird zu einer Gottschalk-Farce (treffend dargestellt von Martin Zysset).

Auch der kreuzbrave Vater Trulove (Alfred Muff) kann seine Blicke nicht vom TV abwenden, und selbst seine Tochter Anne, die einzige positive Gestalt im Stück, widersteht der Medienwelt nicht und versucht sich in einer Show als «Supertalent». Martin Kusej lässt keinen Zweifel daran, dass er das Premierenpublikum mit meint. Er ist ein Moralist. Hinter dem schrillen Glanz bleiben jederzeit Melancholie, Sinnlosigkeit und Ernst spürbar. So ist eine Aktualisierung gelungen, die für einmal szenisch keine Brüche aufweist.

Der Staub ist weggeblasen

Zu bemängeln gibt es einzig die zu langen Umbaupausen zwischen den Bildern, die den Erzählfluss unterbrechen. Was der Musik allerdings nicht schadet. Von Nikolaus Harnoncourt, der in Wien dirigierte, hat in Zürich der englische Komponist Thomas Adès die Leitung übernommen. Er kennt das Werk genauestens, schliesslich hat er dort zwei Melodien für seine eigene Oper «Powder Her Face» stiebitzt (TA vom Samstag). Er ist ein Gewinn. Denn weder stellt er uns Strawinskys Musik als modern vor (sie klingt ganz selbstverständlich), noch wird der Staub, der sich auf sie gelegt hat, hörbar. Im Gegenteil, er wirkt wie weggeblasen.

Adès erreicht das nicht einfach durch frech-forsch-freies Drauflosmusizieren, er hört vielmehr in die Melodien und in die Instrumentallinien hinein, moduliert sie auf liebkosende Weise, macht sie geschmeidig und bewegend, kann aber im nächsten Moment die Handlung wieder vorantreiben, sodass der Elan stets gewahrt bleibt. Martin Gantner ist ein vitaler, wahrhaft teuflischer Nick Shadow, der Tom Rakewell von Shawn Mathey schwankt zwischen Lässigkeit und Melancholie, seine Stimme klingt mal draufgängerisch und dann wieder matt. Die Szenen der beiden sind Höhepunkte des Abends.

Hinzu kommt die Anne Trulove von Eva Liebau, hingebungsvoll und doch verführbar. Und gerade an ihr arbeitet Adès - beim erklärten Anti-Ausdruck-Komponisten Strawinsky - auch die Emotionen heraus. Seine Interpretation bietet eine andere, aber ebenso nötige Aktualisierung.