«Music-Star» und Swinger-Party

Sibylle Ehrismann, Zürichsee-Zeitung (16.02.2009)

The Rake's Progress, 14.02.2009, Zürich

Opernhaus Premiere von Strawinskys «The Rake's Progress» begeistert aufgenommen

Strawinskys «The Rake's Progress» ist im 18. Jahrhundert angesiedelt, die schon im Voraus heftig diskutierte Inszenierung von Martin Kusej wird mit «Zürich 2009» übertitelt. Dem Publikum gefiels.

Strawinskys einzige abendfüllende Oper ist umstritten. «The Rake's Progress», zu Deutsch «Das Leben eines Wüstlings», wurde 1951 in Venedig uraufgeführt. Die Geschichte dreht sich um Tom, der eine Bankanstellung ausschlägt, um sein Glück selber zu versuchen. Gerne würde er Anne heiraten, dafür braucht er einen Job und Geld. Plötzlich erscheint Nick Shadow, der ihm das Erbe eines unbekannten reichen Onkels überbringt. Tom folgt Shadow, der ihn ins dekadente Stadtleben einführt: ins Freudenhaus und in spekulative Geschäfte. Tom stürzt ab und wird wahnsinnig. Das erste Bild spielt im Garten Truloves. Anne und Tom erfreuen sich ihrer Liebe.

Der ganz normale Wohlstand

Auf der Zürcher Bühne sieht das so aus: Ein kahles Zimmer, die beiden liegen auf einem Bett, der Fernseher läuft, Bierdosen und leere Pizza-Kartonschachteln liegen herum. Dazwischen etwas Turteln und Liebkosen. Man ist mitten drin in der ganz normalen Wohlstandsverwahrlosung. Kein Grund, sich über die Zukunft und eine Arbeit den Kopf zu zerbrechen. Herrlich, wie der teuflische Shadow aus einem «Pizza Diavolo»-Karton heraussteigt, köstlich die ganz alltäglichen Kostüme von Su Sigmund. Und im Fernseher laufen «Big Brother», «Music-Star» oder «Glanz & Gloria» (Video: Peer Engelbracht). Was bereits im Vorfeld zur Zürcher Premiere Schlagzeilen machte, ist die «Freudenhaus-Szene». Kusej inszeniert sie mit lauter splitternackten Männern und Frauen. Das ist ziemlich gewagt - und eindrücklich: Lust und Freude gibts hier nicht. Die verschiedenen Arten des Geschlechtsaktes wirken mechanisch, das ganz Bild strahlt etwas Gelangweiltes aus, macht die Leere dieser exzessiven Sinnesfreuden deutlich.

Auch die «Türken-Baba», von Kusej als Fernsehstar portiert, die Tom schliesslich heiratet, ist anziehend und abstossend zugleich. Sie tritt als Frau auf, hat aber einen Penis, den sie sichtbar präsentiert. Immer weiter gleitet Tom ab, seine Firma macht Konkurs, doch die Versteigerung seiner unbrauchbaren Waren gelingt dank einem wie Gottschalk gekleideten Versteigerungs-Showmaster. Das sinnentleerte, lieblose, medial und marktwirtschaftlich ausgerichtete Leben wird von Kusej eins zu eins dargestellt.

Stark geforderte Sänger

Das alles fordert von den Sängerinnen und Sängern eine hohe schauspielerische Präsenz. Und auch ihre Vokalpartien sind sehr heikel zu singen und zu intonieren. Die Melodien mit ihrer rhythmisch komplexen, linear verflochtenen Klanglichkeit sind polyphon in den Instrumentalklang eingewoben. Thomas Adès pflegt als Dirigent diese Homogenität integrativ, lässt dabei aber auch den eindrücklichen Bläserpartien und den stimmlichen Eigenarten genügend Raum. Überraschend war vor allem auch, wie Adès die rhythmische Komplexität dieser bläserlastigen Musik mit einer atmenden Natürlichkeit und Sicherheit dirigierte, die die Sänger mittrug. Das Orchester, welches die Besetzung von Mozarts «Così fan tutte» aufweist, spielte kammermusikalisch versiert und ausdrucksstark.

Anne wird zum «Music-Star»

Intensiv gefordert war der Amerikaner Shawn Mathey als lyrischer Tenor in der Rolle des Tom. Er singt fast ununterbrochen und ist ständig auf der Bühne - ohne ihn läuft gar nichts. Mathey sang von Beginn weg traumhaft leicht und sicher, dabei gab er den selbstverliebten Naivling mit sicherer Balance zwischen dekadentem Genuss und echter Liebe. Schwierig ist die Partie der Anne, die nichts anderes tut, als ihrem schwachen Tom in «ewiger Liebe» nachzustellen. Eva Liebau machte daraus eine musikalisch herzergreifende, schauspielerisch profilierte und in sich ruhende Figur, die zum Schluss als «Music-Star» übers Fernsehen zum wahnsinnig gewordenen Tom von der ewigen Liebe singt - ein herrlicher Regieeinfall.

Martin Gantner gab dem Shadow eine frische, agile Bariton-Stimme, die Tom unermüdlich durch den Abend trieb. Und Michelle Breedt verlieh der Türken-Baba eine üppige Körperlichkeit und stimmliche Virtuosität. Alfred Muff machte aus der Vater-Trulove-Figur einen sympathischen, leicht komischen «Alten», während Martin Zysset als «Gottschalk»-Imitat stimmlich wie szenisch prägnant auftrat. Auch der Chor, der die meiste Zeit aus den vordersten Zuschauer-Logen singen musste, leistete Beachtliches.

Die radikale szenische Aktualisierung des Stoffs ist Regisseur Martin Kusej gelungen. Musikalisch steht diese Koproduktion des Theaters an der Wien mit dem Opernhaus Zürich unter einem guten Stern, obwohl Nikolaus Harnoncourt absagen musste. Der junge britische Dirigent Thomas Adès war ein adäquater Ersatz. Das Publikum liess sich begeistern und spendete allen Beteiligten, auch der Regie, herzhaften Applaus. Nur ein Einziger schrie nach der Freudenhaus-Szene und zum Schluss sein einsames Buh.