Vom Blödelfernsehen bis zum Schneeballsystem

Fritz Schaub, Neue Luzerner Zeitung (16.02.2009)

The Rake's Progress, 14.02.2009, Zürich

Opernhaus Zürich: «The Rake's Progress». Konstant werden die Szenen durch einen omnipräsenten Fernseher begleitet. Ganz in unserer Gesellschaft lässt Regisseur Martin Kusej Igor Strawinskys Opernparabel «The Rake's Progress» spielen. Mit Seitenhieben gegen Geltungs- und Geldsucht.

In der ersten Szene sieht man ein modernes junges Liebespaar, Nick Rakewell und Anne Trulove, in einem Zimmer. Ausser einer Matratze, auf der sich das halb nackte Paar räkelt, ein paar leeren Bierflaschen, einem leeren Pizzakarton, einem Joint und einem Fernseher gibt es nichts. Als ob es eines solchen Hinweises bedurft hätte, prangt in grossen Lettern: Zürich 2009.

Für den aus Kärnten stammenden Regisseur muss Oper stets Gegenwartstheater sein, denn er findet, die Institution Oper sei reaktionär und auf weite Strecken langweilig. Als er 2002 in Salzburg Mozarts «Don Giovanni» inszenierte, war in zahlreichen Schaufenstern der Festspielstadt die Damen-Unterwäsche-Reklame einer bekannten Firma zu sehen. Prompt erschien diese im Festspielhaus auf dem Vorhang, und tummelten sich auf der Bühne Frauen in knappen Slips und Büstenhaltern.

Zürich ist nicht Wien

Eher provokativ war im vergangenen Oktober seine «Macbeth»-Inszenierung in München, als er die nackten Toten, die der Mann zurücklässt, unter der Theaterdecke aufhängen liess.

Ähnliches befürchtete man für Strawinskys Dreiakter «The Rake's Progress», den Kusej im Opernhaus Zürich inszenierte. Dabei konnte man wissen, was auf einen zukam: Die Inszenierung ist identisch mit jener, die im November über die Bühne des Theaters an der Wien ging. «Der Zutritt ist aufgrund von Nacktszenen erst für Personen ab dem 18. Lebensjahr gestattet», hiess es dort warnend am Eingang, nicht aber im angeblich so puritanischen Zürich. Nun schreibt halt das Libretto von W. H. Auden und Chester Kalman vor, dass bereits im ersten Akt Tom von Nick Shadow, der sich später als Teufel entpuppt, aber in Wahrheit nur sein Alter Ego ist, in das Freudenhaus der Mutter Goose in London geführt wird. Leichtsinnig hat sich Tom, durch eine vorgetäuschte Erbschaft vermeintlich reich geworden, von dem Mann, der aus der Schachtel «Pizza Diavolo» gesprungen ist, von seiner lieben Anne weg zum Sündenpfuhl locken lassen.

Gruppensexbild auf Opernbühne

Und die Regie nimmt diesen sehr wörtlich, wobei sich wieder einmal zeigt, wie unerotisch und langweilig statisch zur Schau gestellte nackte Haut ist. An der Premiere wurde das Gruppensexbild mit einem kräftigen vereinzelten Buh quittiert.

Ein weiteres Abenteuer winkt Tom mit der Türkenbab, dieser laut Libretto bärtigen Zirkusmonster-Attraktion, die hier aber als Transvestit auftritt und sich mit männlichem Glied präsentiert. Auch dieses Weibs ist Tom nach der aufregenden Hochzeit im Alltag bald überdrüssig, allerdings ist nun auch der endgültige Abstieg nahe. Die vermeintlich geniale Erfindung einer Maschine, die aus Steinen Brot herstellen kann, entpuppt sich als Flop und treibt ihn in den Ruin. Mit der Hilfe von Anne, die treu zu ihm hält, kann er zwar seine Seele retten, aber er verfällt dem Wahnsinn und stirbt im Irrenhaus.

Blödelfernsehen am Pranger

Kusej lässt die Parabel in einer auf eine kleine Kammer reduzierten Bühne spielen, die später durch einen Hinterraum erweitert wird und spielt dabei konsequent und auf weite Strecken mit viel Witz auf Erscheinungen unserer Zeit an. Wer denkt bei der Brote produzierenden Maschine nicht an ein Schneeballsystem, das riesige Summen zu generieren scheint, aber in Wahrheit vernichtet? Konstant lässt Kusej die Szenen durch einen omnipräsenten Fernseher begleiten, der bald eigene Bilder liefert, bald das Geschehen mittels Videokamera reflektiert. Er stellt damit ein Blödelfernsehen an den Pranger, das die Sucht des Einzelnen nach Geltung schamlos ausnützt.

Aber es gibt ja auch noch Musik. Wie Thomas Adès, der für den erkrankten Nikolaus Harnoncourt einsprang, diese mit dem glänzend disponierten Orchester des Opernhauses ausbreitet, stempelt die Aufführung erst so richtig zum Ereignis. An die traditionellen Opera buffa bzw. giocosa mit Rezitativen, Arien und Ensembles, die dem Komponisten als Vorlage diente, lehnt Adès sich nur so weit an, als die originale Tonsprache Strawinskys immer in ihrer vollen Kernigkeit und in ihrem erregenden Rhythmus zum Vorschein kommt. Der Beifall des Premierenpublikums war ungeteilt, beim Erscheinen des englischen Dirigenten aber besonders hoch.