Der Teufel aus der Pizzaschachtel

Heinz W. Koch, Badische Zeitung (16.02.2009)

The Rake's Progress, 14.02.2009, Zürich

Das war so schön gedacht. Nikolaus Harnoncourt hätte mit Igor Strawinskys "The Rake’s Progress" (Venedig, 1951) erstmals an der Zürcher Oper ein Werk des 20. Jahrhunderts dirigieren sollen. Und was man von der Premiere der Koproduktion mit dem Theater an der Wien hörte, konnte einen gespannt machen. Es kam anders. Harnoncourt erkrankte und mussten den Zürchern absagen.

Das wurde immer noch sehr vorteilhaft geregelt. Der Ersatz zog sich mehr als nur respektabel aus der Affäre: Thomas Adès, Jahrgang 1971, einer der profiliertesten unter den jüngeren englischen Komponisten und Dirigent dazu, hatte "Die Laufbahn eines Wüstlings" schon 2008 am Londoner Covent Garden einstudiert. Eine außerordentlich eigenständige Interpretation: Natürlich ziseliert Adès das kammermusikalische Stimmengewebe genau aus, ist das wieder exzellente Orchester – Strawinsky nahm an Mozarts "Così fan tutte"-Besetzung Maß – in allen seinen Facetten auf dem Punkt.

Und natürlich realisieren wir in Zürich, wo Strawinsky sich in seiner einzigen abendfüllenden Oper am Ende seiner neoklassizistischen Periode bediente. Der Dirigent macht deutlich, wo’s einer Händel-, einer Monteverdi- oder immer wieder einer Mozart-Hommage gilt, wo Beethovens "Fidelio"-Hörner oder Donizettis "Don Pasquale"-Trompete oder auch Tschaikowskys "Onegin"-Tonfall gemeint sind. Und er macht auch klar, dass dennoch jeder Takt, jeder leicht angeschrägte harmonische Reizwert dieses überaus geistvollen Spiels mit der Vergangenheit Strawinsky pur ist.

Adès‘ Eigenständigkeit indes: Das alles kommt bei weitem nicht so trocken-distanziert daher, wie es gedacht ist. Die knappe, scharf gerandete Zeichnung wächst sich – Parodie hin, Stilkopie her – immer wieder zum tönenden Pastell aus. Von hier ganz untypisch ausholenden Dirigierbewegungen befördert, gewinnt sie an Farbwärme. Und an den dynamischen Höhepunkten des "Giovanni"-nahen Friedhofsbilds streift die Wiedergabe gar ein Terrain, das Strawinsky verabscheute: das des Musikdramas. Am Bezwingendsten verfährt sie so, wenn in der Irrenszene der Esprit der Variation unversehens zum mitleidenden Original, der Komponist von der verschmähten Ausdruckstiefe quasi kalt erwischt wird. Ein Irrtum also in Zürich? Mitnichten: eine äußerst reizvolle Variante, die das Werk zweifellos zulässt.

William Hogarths Kupferstichfolge aus dem Leben eines Taugenichts stand für "The Rake’s Progress" Pate – der Weg des jungen, charakterschwachen Tom Rakewell aus der Landidylle in den Moloch London und übers Freudenhaus ins Irrenhaus. Sein unverhofftes Erbe hat er mit tatkräftiger Hilfe seines teuflischen Adlatus Nick Shadow bald verjubelt – ein verpfuschtes Leben, dem die ihm bis zur Selbstaufgabe ergebene Ann Trulove, eine fast schon wagnerische Erlöserinnenfigur, dann auch nicht mehr aufzuhelfen vermag.

"Zürich 2009" verheißt zu Beginn ein Übertitel. Aktualisierung lautet die Regiedevise. Nicht Hogarth’scher Detailfanatismus, sondern Hopper’sche Leere diktiert Annette Murschetz‘ verkleinerten Bühnenausschnitt. Wer aus Martin Kusejs Inszenierung Gewinn ziehen will, sollte das peinliche So-tun-als-ob der Nackten im Puffbild schleunigst vergessen. Ansonsten ist der Gewinn tatsächlich nicht gering. Tom als Mix aus Faust und Giovanni, Orpheus und, in seiner Geistesverwirrung, Adonis – das alles ist für den Regisseur Bildungsballast. Die Hauptrolle spielt für ihn der Fernseher. Er läuft unausgesetzt und transformiert alles und jedes zur Show. Selbst die Finalmoral kommt als Talkrunde über den Flachbildschirm. Hollywood und "Big Brother" sind allgegenwärtig, die Papparazzi auch. Kameras allenthalben.

Vor allem Toms Karriere wird erst durch die Aufnahme in den TV-Boulevard Realität. Schließlich: Welch ein Medienhype die von Tom geehelichte Türkenbaba ist, das erhellt auch. Bei Martin Kusej trägt sie, anders als von den beiden Librettisten Wyston Hugh Auden und Chester Kallman vorgesehen, keinen Vollbart – sie ist eine Transe mit bereitwillig hergezeigtem Schniedelwutz. Nick Shadow hatte sich im Matratzen-Bierdosen-Lotter-Ambiente des Anfangs aus einer Pizzaschachtel hervorgearbeitet. Das ist jenseits der oft mausgrauen Regietheaterklischees eine frappante Werkvergegenwärtigung, fern aller moralgetränkten Besserwisserei.

Derlei funktioniert allerdings nur mit einem auch darstellerisch so präsenten Ensemble wie hier: mit einem Tom, wie ihn der in allen Stärkegraden prägnante lyrische Tenor Shawn Mathey zeichnet; mit einem Nick, wie ihn der auffallend hell timbrierte Bariton Martin Gantner aufs Schärfste phrasiert (man ist da eher die Bassfarbe gewöhnt); mit einer Ann, die so zart und zugleich so nachdrücklich singt wie Eva Liebau; oder mit einer Türkenbaba, die ihre Pointen so genüsslich (wenn auch vielleicht etwas zu fein) auskostet wie die Mezzosopranistin Michelle Breedt.