Das Tier in ihr, die Gier nach ihr

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (17.02.2009)

Lulu, 15.02.2009, Basel

Calixto Bieitos jüngste Opern-Grosstat: «Lulu» am Theater Basel

15 Jahre nach der letzten Basler Inszenierung kehrt Alban Bergs und Frank Wedekinds «Lulu» ans Theater Basel zurück: in einer packenden Inszenierung von Calixto Bieito und mit Gabriel Feltz am Dirigentenpult.

Welch eine Musik. Sinnlich und intellektuell zugleich, komplex und dennoch eingängig. Wer Ohren hat zu hören, wird aus einem beliebigen Takt Alban Bergs «Lulu»-Musik erkennen. Das klingt anders als Schönberg, als Strawinsky, Ravel, Hindemith, Weill, Krenek und als alles, was in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts sonst noch komponiert wurde. «Lulu» ist der lebendigste Beweis dafür, dass Zwölftonmusik keine «Papiermusik» sein muss.

Schwer zu spielen ist das auch, und dem Sinfonieorchester Basel war es anzuhören in der Premiere am Sonntagabend. Vieles klang dünn, vor allem in den Violinen, auch in der Solovioline. Den Erdgeist-Quarten, die stets die Gräfin Geschwitz begleiten, fehlte es an Erdigkeit. Das Saftig-Sinnliche hatte einen schweren Stand. Anderes wie das Fagottsolo und das Streicher-Spiel am Steg im dritten Akt tönte dann doch wieder sehr überzeugend. Aber dass dies eine kapital anspruchsvolle Partitur ist, konnte das Orchester unter dem neuen Theaterkapellmeister Gabriel Feltz bei allen Tugenden nicht verhehlen.

GESTRAFFT. Doch was heisst da schon «die Partitur»? Seit 30 Jahren gibt es nicht nur die von Alban Berg hinterlassene fragmentarische Fassung in zwei Akten, sondern auch eine «Komplettierung» aus der Feder von Friedrich Cerha, die beispielsweise der Basler Produktion von Hans Hollmann 1994 und vielen anderen Aufführungen in aller Welt zugrunde lag.

Sie hat ihre Qualitäten – und ihre Längen im dritten Akt, vor allem im Paris-Bild. Dieses hat man jetzt in Basel weggelassen, was zwar eine Lücke in der Biografie Lulus und ihres Klüngels verursacht, aber die Handlung straffer macht und den Opernabend knapp unter die magische Drei-Stunden-Marke drückt. Eine vertretbare Entscheidung, zumal das originale Schlussbild, in dem Lulu ihr Leben als elende Nutte aushaucht, komplett gespielt wird.

ENTKLEIDET. Als Regisseur hat das Theater den Katalanen Calixto Bieito gewonnen – und damit wieder einen tollen Schachzug getan. Dieser skandalumwitterte Bilderstürmer und Opernerneuerer weiss die Dinge zuzuspitzen, sie auf den Kern ihres Gehalts zu bringen. Und dieser Kern ist für ihn im Falle von «Lulu» das Animalische im Menschen – die sexuelle Lockung der Frau und die Gier des Mannes wie der Frau. Dass diese Lulu vielleicht auch durch ihren Geist bezirzen könnte, kommt einem bei dieser Figurenzeichnung nicht in den Sinn. Lulu ist Körper, nicht mehr und nicht weniger.

Das ist viel des Sexuellen, und Bieito spart nicht mit Anspielungen aus der Sphäre des Erotischen. Dabei zeigt er nicht nur Symbole wie den langen Tunnel (und Ausschnitte aus einem Pornofilm) im Verwandlungsbild des zweiten Aktes, sondern auch die körperliche Sache selbst: Lulu zeigt sich häufig leicht geschürzt und am Ende splitterfasernackt, und auch die lesbische Gräfin Geschwitz offenbart so viel Busen wie in noch keiner Inszenierung. Männliche Geschlechtsmerkmale erspart uns Bieito diesmal, anders als in seinem Basler «Don Carlos».

VERSCHWOREN. Klar, lässt sich ein so explizites Opernkonzept nur mit einem eingeschworenen Sängerteam bewerkstelligen. Und das ist, allen Beschränkungen eines mittleren Theaters zum Trotz, in Basel zusammengekommen.

Preisen wir zuerst die Titeldarstellerin: Marisol Montalvo, eine Sopranistin mit einer leichten, fast vibratolos geführten, genau intonierenden Stimme. Keine hochdramatische Femme fatale, sondern die Verkörperung der mädchenhaft-agilen jungen Frau. Eine dunkelhäutige Schönheit, die sich ohne Peinlichkeit nackt zeigen kann und die Idealgestalt einer Lulu abgibt.

Die Gräfin Geschwitz ist in dieser Inszenierung als attraktive Blondine, am Schluss mit Edvard-Munch-Wahnsinnsblick gezeichnet. Tanja Ariane Baumgartner, die gefeierte Penthesilea in der Basler Neuenfels-Inszenierung, singt sie mit herrlich strömendem Alt und vorzüglicher Diktion.

Auch für die Männer hat die Basler Oper glückliche Besetzungen gefunden – teils im Ensemble, mehrheitlich ausserhalb. Rolf Romei ist mit seinem eher schmalen Tenor, aber glänzendem Spieltemperament ein glaubwürdig flippiger Pop-Fotograf und Pin-up-Maler, dessen hüllenlose Lulu-Porträts jeder «Playboy»-Ausgabe gut anstünden (Bühnenbild: Alfons Flores). Erin Caves in der grossen Partie des Komponisten Alwa wurde als erkrankt gemeldet, sang bis auf den dritten Akt gleichwohl mit sauber geführtem Tenor.

Imponierend Claudio Otelli als Dr. Schön und als Mörder Lulus: ein stattliches Mannsbild, prächtig bei Stimme und von stolzer Figur. Andrew Murphy spielt und singt den Athleten Rodrigo, eine Figur von unerhörter Grobheit, mit gediegenem stimmlichen Material. Eine Freude ist es, am Theater Basel dem Bassisten Allan Evans in der Partie des alten Schigolch wiederzubegegnen. Schon in den 70er-Jahren war Evans eine Stütze des hiesigen Ensembles.

GEFEIERT. Neben ihren erotischen Reizen bietet die Regie einigen Inszenierungs-Esprit auf. Der afrikanische Prinz, der Lulu in seine Heimat entführen will, ist ein effeminierter Operettengeneral; die Figur ist zusammengelegt mit der des Kammerdieners im zweiten Akt (Karl-Heinz Brandt).

Der Abschiedsbrief, den Doktor Schön an seine Verlobte schreiben muss, wird als SMS abgeschickt. Der Gymnasiast, der ebenfalls in Lulu vernarrt ist, ist in Basel eine Gymnasiastin im kurzen Röckchen – eine kleine Pointe, die den «pansexuellen» Charakter der Lulu verdeutlicht (Aurea Marston). Die teils verelendete, teils pervertierte Entourage Lulus stellt ihren letzten Endes reinen Charakter deutlicher ins Licht: Am Ende ist Lulu, das schöne Naturkind, die einzig wahre menschliche Figur von allen.

Der Premierenapplaus war freundlich und anhaltend, wenngleich nicht frenetisch. «Lulu» ist und bleibt, um den Dr. Schön zu zitieren, «ein Stück Arbeit». Aber ein lohnendes.