Sex, Macht und das Grauen

Christian Fluri, Mittelland-Zeitung (17.02.2009)

Lulu, 15.02.2009, Basel

Theater Basel: Regisseur Calixto Bieito lotet in seiner Inszenierung von Alban Bergs «Lulu» in starken, aufwühlenden Bildern die Abgründe unserer Welt aus.

Aufgewühlt, verstört war das Publikum am Schluss der Premiere von Alban Bergs «Lulu», bevor es grossen Applaus spendete. Das letzte Bild der Oper, in dem Lulu buchstäblich im Dreck der Gesellschaft landet, geht unter die Haut. Den Lustmord an Lulu, dieser weiblichen Verkörperung von Sexualität, welche die Gier der Männer weckt, zeigt der katalanische Regisseur Calixto Bieito in der ganzen perversen Grausamkeit. Er lässt uns erschauern ob des Abgrundes menschlicher sexueller Gewalt, die Berg in seiner Musik aufreisst. Einen Skandal gab es keinen in Basel. Weshalb auch? Denn Sexualität und ihre destruktive Seite in einer in Doppelmoral lebender Gesellschaft ist Thema der Oper. Und Bieitos Regiearbeit ist genau, intelligent und konsequent › er lotet Alban Bergs Werk, seine Musik und das von ihm zum Libretto verarbeitete Doppeldrama von Frank Wedekind («Erdgeist» und «Die Büchse der Pandora»), in seinen Tiefendimensionen aus.

«Lulu» ist ein Meilenstein der modernen Operngeschichte, mit ihr und «Wozzeck» hat Berg, die Oper erneuert. Bieito verlegt die Handlung in unsere Gegenwart, in eine Zeit, in der sexualisierte Bilder und Sexualität beliebig verfügbar sind › und trifft dennoch genau den Gehalt der fürs frühe 20. Jahrhundert typischen «Lulu». In unserer Zeit gibt es keinen Eros mehr, sondern allein blanken Sexus: das pure Animalische. Dem Prolog entsprechend zeigt uns Bieito die Gesellschaft als eine Art Menschheitszoo. Dafür hat ihm Bühnenbildner Alfons Flores aus Metall und Glas einen Rahmen geschaffen, das ein Gehege symbolisiert, in das er die einzelnen Szenen stellt.

Ein halbstarker Dompteur stellt uns die Figuren als Tiere vor. Dabei entledigen sich Statisten der Kleider und gebärden sich wie Tiere. Sie machen so eine von nackter Gier gelenkte kaputte, kranke Psyche dieser Menschen äusserlich sichtbar. Lulu wird hier nicht als stolze «Urgestalt des Weibes» hereingeführt, die ist in unserer Gegenwart ebenso wenig existent wie der Eros. In Wolldecken gehüllt erscheint sie, verschüchtert, als ein in Gefangenschaft gesetztes «Tier». Brutal schreibt ihr der Dompteur ihre Rolle als Objekt der Begierde ein.

Bieitos Lulu ist eine von Dr. Schön aus einem Drittweltland entführte exotische Schönheit. Sie hat nur ihren Körper und ihre Sexualität, um in dieser nach ökonomischer Macht funktionierenden Gesellschaft zu überleben. In drastischen Bildern wird der Mix aus Gewalt und Gier dieser animalischen Sexualität sichtbar gemacht.

Doch nicht Lulu selbst dominiert die Szenerie. Es sind die überdimensionierten Fotografien der Lulu. Die Bilder, auf denen sie vervielfältigt erscheint. Sie dienen den Männern als Projektionsfläche für ihre sexuellen Wünsche. Ihre Nacktheit auf der Bühne ist somit auch Zeichen ihrer Entblössung. Lulu ist bei Bieito nicht nur die starke Kämpferin ums eigene Überleben, deren Sexus die Männer erliegen. Sie ist ebenso das verlorene Mäd-chen, das um Liebe bittet, die sie in dieser kalten Gesellschaft nicht erhält. Für die Männer ist Sexualität stets eigene Befriedigung und Machtdemonstration. Schön verheiratet sie, weil er es nicht erträgt, ihrem Sexus zu verfallen. Ihr erster Mann bricht aus Eifersucht tot zusammen. Der mediokre Maler - hier ein Fotograf - schneidet sich die Kehle durch. Beide ertragen es nicht, ihre scheinbare Macht über Lulu zu verlieren.

Bieito legt das kriminelle, perverse Innenleben der Gesellschaft offen, zeigt ihre Destruktivität. Wir sehen eine Halbwelt, in der sich die Reichen tummeln: Sie ist die kriminelle, verborgene Seite der Gesellschaft: Ihre wahre Realität. Es ist eine Gesellschaft von im kindischen Stadium zurückgebliebenen, brutalen Triebwesen, die sich an zweideutigen Kindercomics und an Pornographie begeilen › in ihrer Sucht nach neuen Reizen.

Es ist der Machtverlust, der die Männer gleichsam kastriert. Das zeigt Bieito in einem grossartigen Bild an Schön. Der hockt nach der von Lulu erzwungenen Heirat mit ihr als gebrochener Mann da. Denn nun hält Lulu Hof im Salon, den Flores perfekt als Hotelhalle ausgestattet hat. Sie treibt es mit der Gräfin Geschwitz, verführt Alwa, festet mit den kaputten Figuren der Halbwelt. Schön reagiert gewalttätig, zerstört ihr Bild, will sie zwingen, sich zu erschiessen. Doch Lulu erschiesst ihn. Danach aber nimmt die Gesellschaft grausame Rache an ihr. Die zur Strassendirne erniedrigte Lulu wird von den wiederauferstandenen toten Männern erniedrigt. Schön kehrt als Lustmörder wieder und zerschneidet sie und ihre Geliebte Geschwitz, die bis zur Selbstzerstörung mit ihr geht.

Bieito trifft mit seiner bilderstarken Inszenierung präzis den Parabel-Charakter von Bergs Oper und führt sie in unsere aussen cleane Welt und lässt uns in ihren Abgrund blicken, ins blanke Grauen. Seiner Inszenierung ist die aufwühlende Energie eigen, die Bergs grandiose Musik in sich trägt.

Dieses Theaterkunstwerk lebt von einem Solistenensemble, das sich ihm mit Leib und Seele hingibt. Marisol Montalvo spielt ohne Schonung die animalische Sexualität aus, ebenso ihre zerstörte Existenz als Strassendirne. Sängerisch gefällt sie mit ihrer eher kleinen, perfekt geführten Stimme vor allem in den leiseren Passagen. Ergreifend gestaltet sie den Schluss. Überragend ist Claudio Otelli als Dr. Schön. Mit kräftigem, dunklem Bariton ist er ganz der gewalttätige, Lulu verfallene Machtmensch: abweisend, kalt und herrisch. Grossartig ebenso Tanja Ariane Baumgartner als Gräfin Geschwitz. Sie gestaltet farbenreich mit berührendem Mezzo. Der vergrippte Tenor Erin Caves schlug sich als Alwa Schön mit seinem schönen Tenor mit feinem Schmelz heldenhaft. Andrew Murphy ist ein echt rüpelhafter, vulgärer Dompteur. Allen Evans überzeugt als Schigolch, der scheinbare Vater Lulus, der sie begleitet, aber auch missbraucht. Der Rolf Romei gibt den mediokren Künstler mit seinem lyrischen Tenor ausgzeichnet. Auch Karl-Heinz Brandt und Aurea Marston meistern ihre kleineren Rollen bestens.

Gabriel Feltz, «Pincipal Guest Conductor» am Theater Basel, und das Sinfonieorchester Basel entfalten die ganze Kraft und den Farbenreichtum von Bergs Musik. Feltz bringt die Sinnlichkeit und die Modernität der Musik packend zum Ausdruck. Gespielt wird die von Friedrich Cerha vervollständigte dreiaktige Fassung, ohne das Paris-Bild, das fast ganz von Cerha stammt. Der Abend gewinnt dadurch an dramaturgischer Stringenz.

So sehen und hören wir - nach zwölf Jahren - dieses Meisterwerk der Moderne wieder in Basel: als grosses Musiktheater.