Sexualität und Gewalt des Menschentiers

Herbert Büttiker, Der Landbote (17.02.2009)

Lulu, 15.02.2009, Basel

Im Theater Basel ist die Bühne ein grosser Käfig. Darin zerfleischen sich das schöne Tier Lulu und seine Männer – illuminiert und betrauert von Alban Bergs Musik.

Die Todeskaskade ist ebenso grauslich kolportagehaft wie bestürzend. Es geht vom Herztod des Medizinalrats, der Lulu mit dem Maler überrascht, zum Suizid des Malers, der Lulu als Idealbild heiratet und keine Ahnung von nichts hat, bis ihn Dr. Schön, Grossbürger und Lulus Liebhaber, aufklärt. Dann geht es weiter vom tödlichen Beziehungsdrama zum Sexualmord: Dr. Schön büsst seine Abhängigkeit in einer chaotischen Ehe mit Lulu und dann mit ihren Revolverschüssen. Lulu läuft am Ende als Prostitutierte in London Jack the Ripper über den Weg.

Sexualität und Gewalt in der tabulosen Auslegeordnung des Dramatikers Frank Wedekind und der komprimierenden und steigernden Verarbeitung durch Alban Bergs Musikdramatik: Für den katalanischen Regisseur Calixto Bieito, der schon etliche Skandale provoziert hat, zuletzt auch in Basel mit «Don Carlos», ist «Lulu» die Oper, die für ihn geschrieben scheint. Alle Drastik, die seiner Fantasie und seinem Blick auf die Menschen entsteigt, erscheint im Albtraumklima von Bergs Oper nur als noch konsequentere Evokation dessen, was wir uns eigentlich vorstellen. Es sind lauter Zumutungen, von der blutigen Leiche des Malers, die auf die Bühne gebracht wird, bis zu Lulus Tod. Was das Textbuch hinter eine verschlossene Tür verbannt, zeigt sich hier auf offener Bühne: wie sich Lulu nackt dem Freier hingibt, der sein Messer zückt.

Körperarbeit

Was für die Gewalt gilt, gilt selbstredend auch für die Sexualität, wobei in der Skandaloper das eine vom anderen ja eben kaum zu trennen ist. Physiologie dominiert überhaupt im Theater des Katalanen, und die des Singens bekommt keine Extraplattform. Die Darsteller tragen auch ihre Haut zu Markte und mehr. Wie «organisch» – fern aller Peinlichkeit – sie im heftigen Körpereinsatz ihrer Rolle aufgehen und dabei auch ihre musikalisch anspruchsvolle Aufgabe lösen, ist über weite Strecken zu bewundern, und es geht unter die Haut.

Einige wie Tanja Ariane Baumgartner als Gräfin Geschwitz, Ralf Romei als Maler, Allen Evans als Schigolch gestalten Phrasierung und Diktion in einer Plastizität, die dann doch auch dem Stück als komponiertem Schauspiel und dem Text als Musiksprache alle Ehre erweist. Bei anderen wie Claudio Otellis Dr. Schön bleibt das Klangspektrum eher einförmig forte, das Spiel aber ist voller Intensität. Erin Caves gab, hörbar durch Erkältung eingeschränkt, Alwa die Emphase.

Im Brennpunkt natürlich: Marisol Montalvos Lulu, Gesang und Spiel einer attraktiven, jüngeren Sängerin mit bereits grosser Rollenerfahrung, bis ins hohe cis der musikalisch akrobatischen Wendigkeit der Partie gewachsen, auch im Spiel katzenhaft, schnell, aggressiv und direkt. Andere, schillerndere Facetten einer geheimnisvolleren, einer kindhafteren oder auch mondäneren Lulu wären denkbar, sängerisch eine, die stärker aus der Sprache heraus phrasiert und ein grösseres Klangspektrum entfaltet. Aber wie auch immer, diese Lulu repräsentiert fulminant einen zeitgemässen Frauentyp in der heutigen Sexlife-Menagerie.

Als solche präsentiert sich auch die Bühne von Alfons Flores. Deren Metallgerüste erinnern an einen Tierkäfig, aber Glasboden, Neonstäbe und Designermöbel zeigen, um welchen Zirkus es sich hier handelt. Das ist spektakulär, stimmig im Detail, wenn Lulu in dieser Inszenierung als leicht oder unbekleidetes Fotomodell posiert, und eindrücklich im Totale, das auch den Orchestergraben umfasst.

Das Orchester mit im Bild

Gerade weil Bieitos Theater optisch ein- und aufdringlich die Wahrnehmung dominiert, ist es gut, dass das Orchester mit ins Bild gerückt wird. Es verdient unbedingt nicht nur die unbewusste Infiltration des Nevensystems der Hörer, sondern auch die Aufmerksamkeit auf die Klangfinessen, auf die lyrischen Exkurse der Solisten und überhaupt. Unter Gabriel Feltz’ Leitung verbindet es Klarheit im Detail und die Spannung weiter Bögen. Im Ganzen macht der in der Adagio-Trauer gipfelnde Orchesterkommentar zum Geschehen, das «Ecce homo», ja die Oper aus.