Alexander Dick, Badische Zeitung (17.02.2009)
"Der Verstand hat gegen die Überzeugungskraft von Brüsten und Hüften nichts aufzubieten." Diese Einsicht verdanken wir – nein, nicht dem katalanischen Opernregisseur Calixto Bieito – Deutschlands Vorzeigephilosophen Peter Sloterdijk. Der sie wiederum auch nur früheren Zeiten abgeschaut hat. Genauer gesagt der Antike, und da dem liebestollen und deshalb gar nicht mehr so weisen Aristoteles, der sich von der Hure Phyllis reiten ließ. Der Dämon des Geschlechtstriebes macht selbst Denker willenlos. . .
Es funktioniert noch immer, vielleicht rücksichtsloser oder rigoroser denn je. Sex sells, dazu braucht man nicht nur auf den Umsatz der Pornoindustrie zu schauen, der allein in den USA jährlich 13 Milliarden Dollar beträgt. Manchmal genügt der Blick ins Theater, in diesem Fall ins Basler, wenn einer, der das Etikett "Skandalregisseur" trägt, in diesem Fall Calixto Bieito, ein "Skandalstück", in diesem Fall die Oper "Lulu" von Alban Berg, inszeniert. Drei Fernsehteams lauern vor der Bühne und im Foyer, in Erwartung des Skandals, viel nackten Fleisches und der Reaktionen darauf. Sie sind gekommen, um den Voyeurismus zu bedienen, mutmaßlich einen überwiegend männlichen. Denn "als der Mann sexuell ward, da schuf er das Weib", schrieb der ebenso juden- wie frauenfeindliche Denker Otto Weininger in seinem umstrittenen Hauptwerk "Geschlecht und Charakter" von 1903, also etwa in der gleichen Zeit, als Frank Wedekind seine skandalträchtige "Erdgeist"-Tragödie, die Vorlage zur Berg-Oper, veröffentlichte.
Das Weib Lulu, das Bieito auf die Bühne stellt, ist die perfekte Aktualisierung dieses Objektbegriffs im postbürgerlichen, digitalen Zeitalter. Bieitos Lulu ist die öffentliche Frau schlechthin – Produkt männlicher Fantasien und gedemütigte Ware. Der Tiermetapher Schlange, derer sich der Dompteur im Prolog der Oper bedient, bedarf es im Grunde gar nicht mehr; der entblößte Körper verhält sich tierisch genug. Und was dieser, was speziell jener Lulus ist, zeigt uns der Tierbändiger im Outfit eines Indiana Jones (Kostüme: Ingo Krügler): ein Spielzeug, eine Barbie-Puppe, der Man(n) einfach den Kopf abbeißt. Lulu, die Frau, die eigentlich keinen Namen hat, ist Metapher für alle Instrumentalisierungen des Weiblichen in der Gegenwart. Gigantische Fototapeten zeigen sie in obszönen Posen, wie weiland Helmut Newtons Big Nudes.
Lehrstück über die Pornographisierung der Gesellschaft
Auf Alfons Flores’ und Philipp Berwegers perfekt gestalteter Bühne ist kein Zentimeter Raum für Intimität, alles ist öffentlich, auch der enge Käfig, in dem Lulu tanzen muss. Der Platz, der noch am meisten "Geborgenheit" ausstrahlt, ist – und auch da ist die Regie konsequent – der Müllcontainer, auf den der Mörder die splitternackte Lulu wirft, nachdem sich diese zunächst vor dem Publikum(!) erniedrigen musste. In dieser letzten Szene, eingebettet in frostiges Schlachthoflicht, denkt Bieito, wie auch schon andere Regisseure, Wedekind konsequent weiter, indem Jack the Ripper in der Gestalt Dr. Schöns erscheint, des triebhaften langjährigen Lovers Lulus. Will heißen: Aus Bieitos Büchse der Pandora entweicht weniger das Animalisch-Weibliche als vielmehr die männliche Sexualherrschaft. Die Frage, was zuerst da war – Ei oder Henne, ist für ihn klar beantwortet. Das (weibliche) Ei jedenfalls war’s nicht.
Und so sind diese drei Stunden Basler "Lulu" ein Lehrstück über die Pornographisierung einer Gesellschaft, die seit Wedekind und Berg sprunghaft zugenommen hat. Selbst der Basler "Lulu"-Film, den die Dramaturgie der Oper übrigens zwingend vorschreibt, beschreibt das mit eindeutigem Filmmaterial aus der Porno-Branche und langen Tunnelsequenzen, an denen ein Siegmund Freud seine Freude gehabt hätte. Dass man in Basel die von Friedrich Cerha vervollständigte dreiaktige Fassung, aber ohne deren erste Szene, spielt, ist ein Kuriosum, aber nicht unklug, da so der umstrittenste Teil des Werks ignoriert wird. Gleichwohl, man hätte sie angesichts der erheblichen musikalischen Qualitäten der Aufführung auch gerne noch miterlebt.
Denn nicht zuletzt dank der gewaltigen singdarstellerischen Leistung Marisol Montalvos in der Titelpartie, die auch beim Schlussapplaus noch sichtbar gezeichnet ist von ihrer Selbstentäußerung, blüht diese Aufführung auch musikalisch. Wenn sich überhaupt Einwände an Montalvos vokaler Virtuosität ziemen, dann allenfalls der, dass ihr geschmeidiger lyrischer Koloratursopran bei Bergs artifizieller Stimmakrobatik in der Höhe zuweilen ganz leicht ins Soubrettige abgleitet, aber selbst das ist der Figur noch angemessen.
Montalvos Dankesgesten am Ende gingen zuhauf in Richtung Orchestergraben. Völlig zu Recht. Das Sinfonieorchester Basel hat einen außerordentlichen Abend. Sicher auch dank Gabriel Feltz am Pult, der Bergs Partitur das gesamte frühe und mittlere 20. Jahrhundert entlockt. Der Kammerspielton, das laszive Parlando (gerade bei den gesprochenen Passagen) geraten ebenso überzeugend wie ihre zerbrechliche Melancholie und die manchmal unverhohlene Brutalität. Dabei ist der Dirigent ein Detailbesessener, und einer, dem die Balance zwischen Graben und Bühnen besonders am Herzen liegt. So beeindrucken auch die übrigen Gesangsleistungen, allen voran Tanja Ariane Baumgartners lasziv-geschmeidige Gräfin Geschwitz und Claudio Otellis durchdringender Dr. Schön. Ohne Tadel auch Ralf Romei (Maler/Neger), Allan Evans (Schigolch) und Andrew Murphy (Tierbändiger/Rodrigo). Dass Erin Caves den Alwa trotz angesagter Erkältung irgendwie durchstand, verdient Erwähnung.
Nur die Kamerateams mögen am Ende unzufrieden gewesen sein. Der Skandal blieb aus. Vieles an dieser Inszenierung war nämlich gar nicht so neu. Vielleicht hat man es nur selten so konsequent zynisch gesehen.