Mit den Waffen einer Frau den Männern den Kopf verdreht

Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (18.02.2009)

Lulu, 15.02.2009, Basel

Er mag weltweit für Opernskandale sorgen, aber der katalanische Regisseur Calixto Bieito versteht sein Handwerk. Am Sonntag hatte im Theater Basel seine Inszenierung von Alban Bergs «Lulu» Premiere.
Was ist sie, diese Lulu, wie sie Alban Berg aus den beiden Dramen Franz Wedekinds «Erdgeist» und «Die Büchse der Pandora» für seine zweite Oper destillierte? Schlange, Vamp, Urbild der Verführung, Werkzeug des Bösen, Projektionsfläche für erotische Fantasien? Alles und nichts von alledem.

Lulu ist eine Frau, die von klein auf gelernt hat, die Reize ihres Körpers zu ihren Gunsten einzusetzen, und die damit keine Skrupel, keine Moral und auch keine Gefühle wie Liebe und vielleicht nicht einmal Lust verbindet. So stellt sie Calixto Bieito auf die Bühne des Theaters Basel, als nichts anderes als eine schöne Frau, um welche die Männer kreisen wie Nachtfalter um das Licht. Dafür braucht man kein schönes Konzept, keine philosophische Unterfütterung. Man braucht eine Sängerin wie Marisol Montalvo, die fähig ist, sich auf diese Figur ohne jeden Kompromiss einzulassen. Und die Amerikanerin schafft dies grandios. Sie hat die Ausstrahlung, die Energie, die Erotik dazu. Sie spielt diese Lulu nicht, sie ist ihre perfekte Verkörperung. In keinem Moment läuft man Gefahr, ihr irgendein Wort, eine Geste, ein Lächeln nicht abzunehmen. Man versteht jeden Mann um sie herum, den sie bezaubert und betört und schliesslich bis zum Preis seines Lebens für sich einzunehmen weiss.

Nacktheit mit Sinn

Bieito und Montalvo haben sehr viel Mut gezeigt. Selten hat Nacktheit auf der Bühne so viel Sinn gemacht, selten hat sie für so starke Bilder gesorgt, selten in ihrer Schönheit und Schonungslosigkeit so berührt. Vom Unterwäsche-Model des ersten Bildes - Bieitos Zeit ist natürlich die heutige und der Maler damit ein Fotograf - über die Tänzerin im Glitzer-Etablissement bis zum Ende, wenn sie völlig nackt ihrem Mörder Jack the Ripper ins Messer läuft, trägt Montalvo nie mehr als ein stark ausgeschnittenes Abendkleid und macht auf High Heels und in String-Tangas beste Figur. Mit seiner Lulu im Zentrum erzählt Bieito die Geschichte nicht nur äusserst realistisch und glaubhaft, sondern entwickelt darüber hinaus eine mitreissende Lust an den unschönen Seiten des Lebens und Sterbens, an den Abgründen menschlichen Verhaltens. Seine Bilder sind bei aller Künstlichkeit des Ambientes stets ungekünstelt, suchen nicht das Allgemeingültige, Überhöhte, sondern zeigen ungeschönt drastische Realität.

Das verblasste aber ein wenige neben dieser intensiven Darstellung der Lulu, wie so manches andere. Zum Beispiel auch der Gesang von Montalvo, der nicht über stimmliche Limiten in Klangfarbe und Volumen und über die eher eindimensionale Art ihrer sängerischen Gestaltung hinwegtäuschen konnte. Unverdientermassen verblassten auch die Figuren rund um Lulu herum. Sie wurden von Bieito genauso sorgfältig und lebensecht bis zum Sterben geführt, hatten darstellerisch ebenfalls höchste Anforderungen zu meistern und überzeugten sängerisch zum Teil mit starken Rollenporträts. Genannt unter ihnen seien Tanja Ariane Baumgartner als Gräfin Geschwitz, Claudio Otelli als Doktor Schön oder Allan Evans als Schigolch.

Meisterleistung eines Dirigenten

Aufhorchen liess auch das Basler Sinfonieorchester, das unter der Leitung des 37-jährigen Berliners Gabriel Fetz stand, der seit dieser Saison als erster Gastdirigent am Basler Theater engagiert ist. Fetz wischte das gesamte Struktur-, Zwölfton- und Symmetriedenken über Bord, welches diese Oper in den meisten Dirigentenköpfen zum lohnenden Objekt einer Auseinandersetzung macht, und holte den Dramatiker und Romantiker Berg aus den Tiefen der Partitur hervor. Dies mit so umwerfender Intensität und Leidenschaftlichkeit, mit filmmusikhaftem Gespür für die Kraft des Moments, dass man sich wundert, wie man sich so lange mit Zahlenspielereien hat aufhalten können.