Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (17.02.2009)
Martin Kusej ist mit Strawinskys Oper «The Rake's Progress» in Zürich eine amüsante Satire auf die TV-Realität gelungen. Bei der Premiere am Samstag im Zürcher Opernhaus überzeugten auch Sänger und Orchestermusiker.
Mit Nacktheit auf der Bühne kann man tatsächlich immer noch ein bisschen Skandal machen. In Wien war Martin Kusejs «The Rake's Progress» letzten November erst ab 18 Jahren zugänglich. In Zürich dürfen zwar auch Schulklassen in Strawinskys Oper, aber diverse Medien und Politiker ereiferten sich im Vorfeld heftig über die «Sexorgie im Opernhaus». Stein des Anstosses war das zweite Bild, das in einem Bordell spielt. Kusej liess dabei ein knappes Dutzend Splitternackte auf plastik-überzogenen Kunstledersofas die Spielarten der Sexualität durchexerzieren. Die Empörung blieb gemässigt: ein paar verschämte und ein ungemein kräftiges Buh mischten sich in den anerkennenden Applaus.
Kritik am Medien-Exhibitionismus
Für das Stück selbst war die Nacktszene nicht nötig: Wären die Statisten im Négligée herumgesessen, hätte das auch genügt. Aber Kusej wollte die Kritik am Exhibitionismus in den Medien, die sich als roter Faden durch die Inszenierung zieht, wohl selbst ein wenig provozieren. Denn sein Tom Rakewell ist nicht so sehr das Opfer des ewig-bösen Teufels, sondern vielmehr Verführter des schnellen Ruhms und Reichtums, den uns die TV-Anstalten zu jeder Tages- und Nachtzeit mit Big-Brother-Helden oder Banknoten vom Fliessband so glitzernd vorgaukeln.
Schon in der ärmlichen Teenager-Bude zu Beginn ist neben der Matratze der Fernseher das wichtigste Stück der Ausstattung. Und auch wenn die Monitore mit dem zunehmenden Reichtum Toms immer breiter und flacher werden, so zeigen sie doch stets dieselben Varianten des grossen Traums vom kleinen Mann. Mit Figuren wie Baba the Turk geht diese Show-Geschichte natürlich nahtlos mit Strawinskys Stück synchron, womit Kusejs Umsetzung insgesamt fast schon ein wenig konventionell und brav wirkt. Die starken Bilder unbewusster Gefühle oder Ängste, wie sie Kusej in seiner «Zauberflöte» und in Schumanns «Genoveva» auf die Zürcher Bühne stellte, fehlen hier jedenfalls. Dafür jongliert der österreichische Regisseur virtuos mit den Anspielungen, die sich zwischen dem Musik-Moral-Märchen von Strawinskys hochliterarischem Librettisten Wystan Hugh Auden und den Billigstformaten der TV-Privatsender und der grassierenden Sucht nach den kurzen Momenten des Fernseh-Ruhms ergeben.
Souveräner Dirigent
Eigentlich war Nikolaus Harnoncourt als Dirigent für diese Produktion vorgesehen und hat sie in Wien auch geleitet. Für Zürich musste er aus gesundheitlichen Gründen absagen. Das Opernhaus fand in Thomas Adès jedoch einen interessanten Ersatz. Eine gute Wahl: Adès hielt nicht nur die Bühne und den Graben souverän zusammen. Er holte aus dieser Partitur, die oft als kühl und distanziert charakterisiert wird, auch einen enormen Reichtum an Klangfarben heraus und demonstrierte, welch genialer Instrumentierungskünstler Strawinsky war und wie subtil er die Stilzitate in seine Tonsprache einzubetten verstand.
Das ganze Sängerensemble stand vor dem Rollendebüt in der jeweiligen Partie. Eva Liebau gestaltete die Rolle der Anne mit berührender Schlichtheit und der passenden naiv-offenen Direktheit. Shawn Mathey als Tom Rakewell waren gewisse Unsicherheiten noch anzuhören, insgesamt aber darf er mit seinem Debüt zufrieden sein. Sängerisches Highlight des Abends aber war neben der souveränen Baba von Michelle Breedt die Bariton-Entdeckung der Saison, der Deutsche Martin Gantner, der als Nick Shadow wie schon in «Genoveva» und «Tristan» eine überaus beeindruckende Vorstellung bot.