Stefan M. Dettlinger, Mannheimer Morgen (17.02.2009)
Gespannt mussten wir sein, als wir nach Basel fuhren. Wenn Calixto Bieito, der wohl blutrünstigste und schmutzigste Opernregisseur der Gegenwart, auf eine der blutrünstigsten und schmutzigsten Opern trifft, nämlich Alban Bergs "Lulu", dann, so dachten wir, geschieht Ungeheuerliches, gerät die Opernwelt, von Flüssigkeiten überflutet, aus den Fugen. Auch andere dachten so und fuhren den Rhein hinauf. Mannheims Schauspielchef Burkhard C. Kosminski, Dramaturg Ingoh Brux und Opernleiter Klaus-Peter Kehr, alle wissend, dass es mit Bieito, Mannheim und gewissen "Meistersingern" einst eine Geschichte gab, die der heutige Basler Operndirektor mit zu verantworten hatte: Dietmar Schwarz. Doch dies ist eine andere Geschichte.
Und dann steht sie da plötzlich auf der Bühne. Als Tier, als nackte, animalische Lulu, die tut, was Lulu tun muss, laut Wedekind und Berg Männer verführen, Männer töten, drei an der Zahl. Der Erste kriegt aus Eifersucht Herzinfarkt, der Zweite erdolcht sich aus ähnlichem Grunde, der Dritte, ein gewisser Dr. Schön, den erschießt sie, bevor sie am Ende in einem Müllcontainer selbst aufgeschlitzt wird, vom Serial Killer Jack the Ripper, dem Aufschlitzer.
Marisol Montalvo steht hierzu weitgehend entblößt auf der Bühne. Halbnackt und, was es auf der Opernbühne wohl noch nicht gab: splitternackt. Egal. Bei Bieito ist sie erotisches Fotomodell für Hochglanzmagazine, der Maler ihr Lebensabschnittsmann und Fotograf. Überall hängen überlebensgroße Pin-Ups von Lulu auf der Bühne. Männermagazine lassen grüßen. Die Bilder sind die aseptische Folie, vor der die Story erzählt wird, doch in der keimfreien Sauberkeit und der unverhohlenen Nacktheit geht jede Erotik verloren. Bieito wäre nicht Bieito, wollte er das nicht genau so.
Dafür wird eine unendliche Einsamkeit spürbar, der zu entrinnen unmöglich ist. Überhaupt zeigt Bieito den triebgesteuerten Menschen als zutiefst tragisches und trauriges Wesen, und manchmal scheint es, als wollte er auch sagen: Schaut, all unsere zivilisatorischen Fortschritte nützen uns nichts - wir bleiben unter allen Lebewesen auf dem Planeten die verkommensten und grausamsten.
Calixto Bieito hat also nicht, was vorher hätte vermutet werden können, über die Stränge geschlagen. Diese "Lulu" ist in ihrer sterilen Nacktheit weit weniger provokant und unter die Haut gehend als etwa seine "Entführung", obwohl die Bühnensprache, die einen jede Sekunde ans Geschehen fesselt, zu erkennen ist. Bieito kennt die Partitur bestens. Man spürt es, denn virtuos changiert er parallel zur Musik zwischen Brutalität und Zartheit.
Auch musikalisch ist das erstklassig. Gabriel Feltz am Pult des Orchesters schafft es, Bergs Partitur in aller Plastizität zu verklanglichen. Marisol Montalvas Lulu ist aufopfernd gespielt. Ihre Stimme klingt bisweilen aber etwas dünn und spitz. Hingegen fielen andere sehr positiv auf: Tanja Ariane Baumgartners Gräfin Geschwitz (ungeheuer warm und edel geführt), Claudio Otellis Dr. Schön (mächtig, doch nicht roh) sowie der Altmannheimer Allan Evans als herumstreunender Penner Schigolch. Die Reise nach Basel lohnt sich mächtig.