Die splitternackte Primadonna

Susanne Benda, Stuttgarter Nachrichten (17.02.2009)

Lulu, 15.02.2009, Basel

Am Ende, beim langen, spürbar ergriffenen Beifall des Publikums im Basler Theater, kämpft Marisol Montalvo mit den Tränen.

Mit gutem Grund: Drei Stunden lang hat die US-amerikanische Sopranistin zuvor die Titelpartie von Alban Bergs 1937 unvollendet uraufgeführter Oper "Lulu" nicht nur gesungen, sondern dargestellt - und weil Calixto Bieito Regie führt, sieht man in einem packenden, brutalen Körpertheater am Sonntagabend eine Lulu, die im dritten Akt splitternackt an der Rampe stehen muss.

Sich derart zu entblößen, muss eine Sängerin nicht nur wollen, sondern auch können. Marisol Montalvo kann es: Schon im ersten Akt, nachdem sie den Maler geheiratet hat, der bei Bieito ein Fotograf ist, hängen Plakate mit einer aufreizend posierenden Lulu vom Schnürboden, auf denen sie jeweils - um mit James Bond zu sprechen, der derlei zu schätzen wusste - nur ein entzückendes Etwas beinahe anhat. Für Lulu, die schon in den von Alban Berg als Vorlage zur Oper verwendeten Dramen Frank Wedekinds nichts hat als nur ihren eigenen Körper, ist Marisol Montalvo eine Idealbesetzung - zumindest visuell. Ihre Besetzung entspricht dem Trend zum Körper-Casting, der in letzter Zeit auch auf der Opernbühne zu bemerken ist. Es mag vor allem der dominierenden Kino-Ästhetik geschuldet sein, dass das Musiktheater von dicken, alten Frauen, die junge, dünne singen, immer weniger wissen will.

Ob das Ganze aufgeht? Dass Calixto Bieito, obwohl er auch hier wieder sein Publikum bei seinen intimsten und tiefsten Gefühlen packt, an diesem Abend in Basel von Unmut verschont blieb, liegt daran, dass seine Inszenierung nichts Aufgesetztes hat. Zwar sieht man neben zahlreichen Kopulationsszenen und viel Blut auf der Bühne unter anderem auch in einem Film die weichgezoomte Nahaufnahme einer derben Pornoszene.

Doch Bieito treibt hier nur ins Extreme, was das Stück zeigen will. Er zeigt, was ist, er bewertet und verurteilt nichts und niemanden, und seine Deutung hat nur insofern eine Moral, als sie die Vertreibung des Kreatürlichen und Physischen aus dem Bereich verurteilt, den viele als hohe Kunst hermetisch vom Leben abtrennen. Dabei ist es Bieito vor allem um eines getan: um fesselndes, zwingendes Theater für heute.

Dass die Musik zu diesem von gestern ist, mag man angesichts der Fülle und Vielgesichtigkeit von Alban Bergs zwölftönig grundierter und motivisch fein vernetzter Musiksprache kaum glauben. Am Pult des Basler Sinfonieorchesters hält sich der Chefdirigent der Stuttgarter Philharmoniker, Gabriel Feltz, zwar bei der emotionalen Emphase zurück, doch sorgt er mit präzisen Einsätzen für ein hohes Maß an struktureller Klarheit und Durchsichtigkeit. Auf dem festen Fundament, das dieses Orchester hier bietet, lässt sich die Freiheit auf der Bühne sicher ausleben. Auch die Sänger - allen voran Rolf Romei als Maler und Neger sowie Claudio Otelli als Dr. Schön und Jack the Ripper, der die heruntergekommene Lulu am Ende im Müllcontainer umbringt - danken es ihm.

Und die Sängerin Marisol Montalvo? Sie kam durch, sie schaffte es, ihr gelangen schöne, präzise Töne und Phrasen vor allem in der Mittellage. Doch um auch vokal eine Idealbesetzung für die schwierige, exaltierte, kontrastreiche und koloraturgespickte Partie der Lulu sein zu können, fehlt es dieser Sopranistin an Farbreichtum, an Substanz und Fülle vor allem in der Höhe.

Als wohl erste vollkommen nackte Primadonna der Musikgeschichte wird Marisol Montalvo dennoch unvergessen bleiben, und wer ihr wachen Herzens zuschaute, wie sie im dritten Akt, den erst der Komponist Friedrich Cerha 1979 vervollständigte, unbekleidet, hilflos und ein bisschen ängstlich an der Rampe stand, der spürte, dass sich hier nicht nur Lulu für die Männer entblößt, sondern eine Darstellerin vor ihrem Publikum prostituiert hatte. Auch im Zuschauerraum sitzen die wilden Bestien, die der Tierbändiger im Prolog der Oper vorzuführen verspricht. Sie genießen diese im Zeitgeschmack aufbereitete "Lulu" als exotische Sinnenfreude. Wenn nur dem einen oder anderen Bieitos scharfe Würzung Verdauungsprobleme bereitete, war dieser Abend sehr viel wert.