Der Wahn des Martyriums

Christian Fluri, Mittelland-Zeitung (30.03.2009)

Les Dialogues des Carmélites, 27.03.2009, Basel

Poulencs Oper «Les dialogues des Carmélites» am Theater Basel. Stark ist Benedikt von Peters Regie und grossartig ist Hanna Schwarz als Mère Marie.
Mit dem Schluss von Francis Poulencs Oper «Les dialogues des Carmélites» von 1957 (nach dem gleichnamigen Stück von Georges Bernanos) beginnt die Basler Aufführung, die im Grossen Haus Premiere hatte. Die Szene der Hinrichtung ist Ausgangspunkt der Inszenierung des jungen Regisseurs Benedikt von Peter. Ausgangspunkt seines Nachdenkens über das Martyrium, das 16 Karmeliterinnen 1794, während der Französischen Revolution, auf sich nahmen › im Namen Gottes und vor allem der katholischen Kirche.

Von Peter erzählt die Geschichte aus dem Rückblick, und er fokussiert dabei auf Mère Marie, die von den Nonnen das für sie tödliche Gelübde einfordert, die aber selbst nicht guillotiniert wird, weil sie bei der Verhaftung nicht im Kloster ist. In ihrer Erinnerung spielt die Geschichte: Die assoziative Struktur des Erinnerns passt genau zur Form der in Einzelszenen über eine Zeit mehrerer Jahre hinweg erzählenden Oper.

Das Sinfonieorchester Basel sitzt hier nicht im Graben, sondern auf der Bühne in einem dreistöckigen Bau (Bühnenbild Natascha von Steiger). Die Musik wird zu einer die Handlung bestimmenden, sie vorantreibenden, lenkenden Maschinerie. So ist sie von Poulenc gesetzt. So liest sie von Peter und hinterfragt zugleich ihre Intention.

Wie in Trance singen die Nonnen das «Salve Regina». Da hinein komponiert ist, wie 16 Mal das Beil des Schafotts niedersaust. Die sich ins Mystische steigernde Musik soll den Gang der Karmeliterinnen in den Tod als heroische Tat verklären. Der Regisseur und hier vor allem Dirigent Cornelius Meister decken aber das unermessliche Grauen auf, von der Poulencs Musik in ihren tieferen Schichten gegen seine eigene Intention spricht. Meister reisst ihre Abgründigkeit auf, entfaltet eine Schwärze, die den Erlösungsgedanken Lügen straft.
Diese bildhafte Musik noch zu illustrieren, wäre gerade falsch. Hier steht kein Schafott. Die 16 Nonnen besteigen › schwarz gekleidet (Kostüme: Katrin Wittig) › nacheinander ein Podest, auf dem ein Fotokopierer steht. Jede lässt ihr Gesicht kopieren und hängt das Bildnis, das gleichsam ihre Individualität aufhebt, an eine Wäscheleine › ein grandioses Bild, das einem den Schauer über den Rücken jagt.

Dann eine Pause. Das Podest vor dem Orchester wird in Mère Maries Schreibkammer umgewandelt. Sie schreibt die Geschichte der Märtyrerinnen auf für die Nachwelt › als ein Weg zum Ruhm. Hinten hängen die Bilder der Toten › entzückt streicht Marie mit der Hand darüber.

In konzertanter Form erzählt von Peter die Flucht der jungen adeligen Blanche aus der Welt ins Kloster, weil sie die aus einem Geburtstrauma entstandene übergrosse Angst vor dem Leben nicht mehr erträgt. Diese Sequenzen aus Blanches Leben stellt Mère Marie in ihrer Kammer mit kleinen Pappfiguren nach, macht sie so klein, ja harmlos. Über Video werden die Erinnerungsstücke auf die Leinwand hinter ihr projiziert (Video: Bert Zander).

Konzertant auch die ersten Szenen im Kloster - Sängerinnen und Sänger bleiben schwarz gekleidet. Von Peter nimmt so die Geschichte der Nonnen, die er über projizierte kurze Text-Erklärungen historisch verortet, zugleich aus der Zeit heraus. Die Märtyrer-Ideologie ist unabhängig von der historischen Zeit. Sie ist ein Produkt christlicher Religion. Die Gesten und die Mimik der Sängerinnen und Sänger erzählen in ihrer Genauigkeit beklemmender von der perversen Struktur des Klosterlebens, als es dessen Illustrierung je könnte. Und die grossartig spielende Hanna Schwarz macht sichtbar, wie die fundamentalistische Mère Marie noch in der Erinnerung ihre Macht, das Leiden und die Unterwerfung der anderen geniesst.
Nach und nach bevölkern die Figuren quasi als Geister, als Untote, die die Geschichte wieder ins Leben ruft, die Kammer Maries. Deren Empfinden pendelt zwischen Verzückung und Angst. Die alte Priorin durchlebt in Maries Bett nochmals den Todeskampf, in dem sie erkennt, dass es weder Gott noch Erlösung gibt. Marie weist die Erkenntnis von sich und geniesst zugleich, dass die sterbende Priorin ihr den Schutz und die Macht über die fragile Blanche übertragen hat. Dabei stilisiert sich Marie zur Mutter Gottes › ein abstossendes, eindrückliches Bild.

Die geniale Hanna Schwarz lässt uns in die kaputte Psyche der Mère Marie blicken, wenn sie von den Nonnen verlangt, am Gelübde festzuhalten, wohl wissend, dass dies für sie den Tod durch die Guillotine bedeutet, und zeichnet sie deutlich als Täterin. Da ist noch einer, der die Fäden zieht, der Auf- und Abtritte der Figuren lenkt, der Beichtvater, der Kaplan des Klosters. Er aber entzieht sich jeglicher Verantwortung, überträgt die Entscheidung anderen.

Aber wie ist das reale Grauen darzustellen, die Verhaftung und Hinrichtung der Nonnen? Heute versucht der Film solche Geschichten in üppigen Bildern mit historischen Kostümen in einem spannenden Plot aufzubereiten. Fasziniert von Menschen, die ihr Leben für eine Ideologie, die Einheit einfordert und Individualität verfemt, wegwerfen. Damit enthistorisiert der Film und raubt den Menschen die Tragik, ist so antiaufklärerisch wie die Religion. Blanche, die erhaben in den Tod geht, weil sie meint, Angst zu überwinden sei ehrenvoll, ist irregeleitetes Opfer, keine Heroin, wie es die Geschichte behauptet. Das erzählt von Peter klug und mit Ironie als «Carmélites»-Verfilmung und fügt dadurch eine weitere klärende Erzählebene hinzu.

Als Regisseur der «true story» über die Karmeliterinnen setzt von Peter den selbstverliebten Kaplan. In der Hinrichtungsszene erhebt er sich in widerlicher Weise zum angebeteten Christus im Paradies, um den sich die getöteten Nonnen scharen. Diese Lügenbilder hinter dem Orchester sehen wir auf der Leinwand. Real steht vorn am Bühnenrand nur ein Holzblock mit einem in die Höhe ragenden Eisen: Auf diesem Instrument erzeugt der Schlagzeuger den schneidenden Klang des fallenden Beils › ein erschütterndes Symbol.

Von Peter hat in starken Bildern eine neue Art von epischem Theater geschaffen. Seine Opernarbeit über Poulencs selten gespieltes Stück ist ein erschütterndes Plädoyer für Menschlichkeit, das den Wahn und die Inhumanität des Märtyrertums offen legt.

In gleichem Sinne durchleuchtet Cornelius Meister Poulencs Oper. Er deckt die orgiastische Seite der Musik mit ihrer teils repetitiven Melodik auf, fächert sie auseinander, wobei ihm die Aufteilung des Orchesters auf die drei Ebenen entgegenkommt. Das Sinfonieorchester Basel folgt ihm in hoher Präzision und in farbenreichem Spiel. Am Schluss klingt die Hinrichtungsszene anders, kräftiger, roher als am Anfang. Da findet nicht allein das Grauen des Todes Ausdruck: Die Lüge des Märtyrertums wird entlarvt.

Ausgezeichnet singen und spielen die Solisten. Sie leuchten ihre Figuren bis ins Innerste aus. Überragend ist Hanna Schwarz, deren Mezzosopran nach mehr als 30 Jahren Opernkarriere nach wie vor von grosser Kraft und Klarheit ist. Ergreifend gibt Svetlana Ignatovich die Blanche, singt mit starkem, facettenreichen Sopran. Rita Ahonen gestaltet eindrücklich den Todeskampf der Priorin. Sophie Angebault gibt mit schöner Stimme die neue Priorin in ihrer Weltfremdheit und Frömmigkeit. Agata Wilewska brilliert als Sur Constance, lotet ihre Ambivalenz aus. Erlend Tvinnereim gibt den Kaplan in seiner Zwiespältigkeit, dies mit eher kleiner Stimme. Gut besetzt sind die vielen kleinen Rollen. Eindringlich, mal berauschend, mal machtvoll singt der Chor des Theaters Basel, singen vor allem die Frauen. Das ist grosser, bewegender Chorgesang.

Ein Kunstwerk haben Benedikt von Peter, Cornelius Meister, die Solistinnen und Solisten sowie alle anderen Beteiligten geschaffen.