Perspektivenwechsel

Christoph Ballmer, Neue Zürcher Zeitung (31.03.2009)

Les Dialogues des Carmélites, 27.03.2009, Basel

Poulencs «Les Dialogues des Carmélites» im Theater Basel.

Francis Poulencs 1957 an der Mailänder Scala uraufgeführte Oper «Les Dialogues des Carmélites» ist ein aussergewöhnliches Werk. Bemerkenswert ist allein schon die (geschichtlich verbürgte) Handlung, die dem Schicksal von sechzehn standhaft für ihren Glauben kämpfenden Nonnen bis zu ihrem bitteren Ende auf dem Schafott der Französischen Revolution folgt. Und höchst individuell ist die mitunter an Filmmusik gemahnende Sogkraft der Partitur, die das Drama trägt. Nicht Liebe, Intrige und Verrat sind darin primär fokussiert, sondern Gefühle von Ohnmacht und Angst und deren Überwindung im Tod. Die eigentliche Hauptfigur ist die junge Blanche, die – von inneren Ängsten getrieben – als Novizin ins Kloster eintritt, dort den qualvollen Tod der Priorin miterlebt, von der Sterbenden in die Obhut von Mère Marie gegeben und von dieser mit allen Übrigen dem Glaubenstod überantwortet wird. Blanche flieht, kehrt aber in letzter Minute ins Kloster zurück, um mit ihren Ordensschwestern zu sterben.

Die in historischer Realität einzige Überlebende ist Marie, die später zur Chronistin des grausigen Geschehens wird. Und diese Marie ist es, die der Regisseur Benedikt von Peter für seine Basler Inszenierung ins Zentrum des Geschehens rückt. Dabei rollt er das Drama ganz von hinten auf. Zu Beginn wird man Zeuge der finalen Exekutionsszene, die das quälende Geräusch der Guillotine unerbittlich in den Strom der Musik fallen lässt. Und dann sitzt sie einen Abend lang auf einer Plattform mitten auf der Bühne, Marie, als die Rekonstrukteurin des Geschehens, die zusehends von den Ereignissen eingeholt und von Schuldgefühlen zerfressen wird. Hinter ihr, auf einem mächtigen Gerüst, die als Märtyrerinnen gestorbenen Nonnen, eingebettet in das wie Orgelpfeifen in seine Register aufgefächerte Orchester: ein Tableau von kathedralenhafter Wirkung.

Diese Umkehr der Erzählperspektive, welche die Spiel-, Zeit- und Handlungsebenen mit zunehmender Dauer ineinanderfliessen lässt, macht das Obsessive dieses Stücks in beklemmender Intensität spürbar. Und wenn ganz zum Schluss die Exekutionsszene ein zweites Mal, nun als gefilmte Monty-Python-Parodie der Kreuzigung Christi, gespielt wird, hat das Wahnhafte in Marie endgültig obsiegt, sind Realität und Fiktion untrennbar ineinander verschmolzen.

Der nachhaltige Eindruck des Regiekonzepts findet im Musikalisch-Darstellerischen seine starke Entsprechung. Hanna Schwarz gibt eine sehr glaubhaft agierende, stimmlich prägnante Marie, Svetlana Ignatovich verkörpert die Blanche mit herrlich tragendem Sopran. Und auch Agata Wilewska als Sœur Constance, Rita Ahonen als alte Priorin und Sophie Angebault als deren Nachfolgerin überzeugen, ebenso wie Allan Evans und Rolf Romei als Blanches Vater und Bruder. Cornelius Meister am Pult des Basler Sinfonieorchesters weiss mit der heiklen räumlichen Disposition souverän umzugehen, konnte an der Premiere kleinere Unschärfen und Wackler indes nicht völlig vermeiden. Die Begeisterung des Publikums war einhellig.