Michael Eidenbenz, Tages-Anzeiger (03.07.2006)
Eugen d'Alberts Oper «Tiefland» war einst ein Hit - heute ist sie nahezu vergessen. Das Zürcher Opernhaus versuchte die Rehabilitation.
Das Stück ist ein Problem. So viel war schon vor der Premiere am Samstag klar. Sein Inhalt ist eine bigotte Geschichte mit moralisierender Botschaft, seine Musik eine eklektische Vereinnahmung manieristisch eingesetzter Stilmittel, die Komponist Eugen d'Albert bei den Romantikern, bei Wagner und in Puccinis Umfeld vorgefunden hat. Gleichzeitig war das Stück nach seiner Uraufführung von 1905 aber auch jahrzehntelang äusserst beliebt. Es hat als erste veristische Oper in deutscher Sprache Musikgeschichte geschrieben und bietet effektvollen Gesangsstoff für gute Stimmen.
Grund genug, mag man sich beim Zürcher Opernhaus gesagt haben, um es mal wieder zur Diskussion zu stellen. Und zwar gleich unter Aufbietung der prominentesten Interpretenkräfte: Am Pult stand Chefdirigent Franz Welser-Möst persönlich, inszeniert hat Schauspielhaus-Direktor Matthias Hartmann, und auf der Bühne agierte eine Topbesetzung. Wie haben sie alle sich mit der problematischen Vorlage zurechtgefunden?
Am leichtesten hatte es wohl Franz Welser-Möst. Die Musik Eugen d'Alberts ist wahrlich entgegenkommend, ist geschmeidig und in jedem Moment selbst erklärend. Ob sie nach «Tristan» klingt, ob sie spanisches Kolorit zur geografischen Lokalisierung der Story bemüht, ob sie in geschlossenen Nummern operettenhafte Tonfälle streift oder in wagnerscher Manier Leitmotive einsetzt (einige davon so penetrant, dass man sie kaum mehr aus den Ohren bringt): Gedeutet werden muss da nichts, es genügt, sie mit der nötigen Sorgfalt blühen zu lassen, was Welser-Möst und dem Orchester der Oper denn auch tadellos gelang. Wobei angenehmerweise im Zweifelsfall die Klangvariante des Charmes und der Eleganz jeweils dem larmoyanten Auf-die-Tube-Drücken vorgezogen wurde. Eine gewisse Noblesse des Ausdrucks war dadurch zu retten: Süss, aber nur selten ölig glitt dieser narkotisierende Stoff in die Gehörgänge.
Ungleich grösser sind dagegen die Probleme, welche die Handlung an eine zeitgemäss verstandene Regie stellt. Der bodenständige, grundehrliche Hirte Pedro, gewohnt, mit dem bösen Wolf auf Augenhöhe zu kämpfen, gelangt zwecks Heirat und Übernahme einer Mühle von den unberührten Bergen ins Tiefland, wo prompt Machtmissbrauch und skandalöse Moral herrschen. Seine Ehe erweist sich als Komplott, arrangiert vom triebhaften Gutsbesitzer Sebastiano, der die Braut Marta seit Kindstagen sexuell ausbeutet. Die Zweckehe dient dazu, den moralischen Schein zu wahren und ihm gleichzeitig weiterhin den Zugang zu Martas Schlafzimmer zu sichern. Grosse Empörung, als alles auskommt, Pedro besinnt sich seiner autonomen Herkunft, erwürgt den Bösewicht und zieht mit Marta wieder «hinauf in meine Berge, hinauf zu Licht und Freiheit».
Eine Kopfgeburt
Kein Wunder, hat solches besonders das Publikum der Blut-und-Boden-begeisterten 30er-Jahre entzückt. Kaum erstaunlich auch, dass Leni Riefenstahl den Stoff 1940 zu verfilmen begann. Unmöglich aber, solchen «Heidi»-Kitsch heute noch wörtlich zu nehmen. Matthias Hartmanns Inszenierung denkt denn auch nicht daran, das zu tun. Hier sind Pedro und seine hehren Berge nicht real, sondern wurden vom bösen Sebastiano in einer Art adrett verspieltem Frankenstein-Labor gezüchtet.
Die heile Alpenwelt ist also eine Kopfgeburt aus der Zeit der Entstehung der Oper, sichtbar wird sie einzig in einer Videoprojektion, deren Farbfiltertechnik wiederum die Riefenstahl-Ästhetik zu zitieren scheint (Video: Sven Ortel). Der Rest der Story spielt dann im mit bombastischen Furnierwänden verkleideten Luxuskontor einer Industriemühle (Bühnenbild Volker Hintermeier); zuletzt lassen sich Pedro und Marta wieder in ihren Laborglaskästen ins Gebirge beamen.
So weit, so klar; die pflichtschuldige Verfremdung wird also zuverlässig geliefert. Allerdings wird man den Eindruck nicht los, dass Matthias Hartmann nach dem verblüffenden Anfang etwas die Lust an weiterer Detailarbeit verloren hat. Einmal noch greift er deutend ein und lässt, als das Liebesduett von Pedro und Marta endgültig zuckrig wird, ironisch rote Blüten regnen. Im Übrigen aber ist weit gehend ein Agieren und Hantieren in konventioneller Opernmanier zu sehen. Es scheint mal wieder die Eigengesetzlichkeit der Maschinerie Oper gewonnen zu haben, die da lautet: Man will schöne Stimmen hören! Und die kriegt das Publikum auch.
Sensationelle Sänger
Ein sensationeller Peter Seiffert verkörpert hinreissend in ganzer vokaler und physischer Fülle den Pedro. Und weil er seine Stimme so eminent ausdruckssicher zu führen weiss, glaubt man ihm den naiven Hirten sogar einigermassen. An seiner Seite nicht minder grandios Petra Maria Schnitzer als Marta: Das Bühnenehepaar Seiffert-Schnitzer, das auch im realen Leben eines ist, scheint zeitweise die Sache in die eigenen Hände zu nehmen und dominiert das Geschehen durch seine pralle Bühnenpräsenz. Da hat es ein anderer Star wie Matthias Goerne nicht mehr leicht, dem schmierigen Sebastiano Gewicht zu verleihen. Auch László Polgár als greise Moralinstanz Tommaso steht manchmal trotz aller Routine etwas unbeholfen auf der Bühne. Dafür zeigen Valeriy Murga als sein jüngerer Verbündeter Moruccio und besonders die entzückende Eva Liebau als mädchenhafte Magd Nuri prägnantere Charaktere.
Es waren Rollendebüts für sämtliche Beteiligte; Eugen d'Alberts einziger anhaltender Opernerfolg scheint sich also tatsächlich aus dem Standardrepertoire verabschiedet zu haben. Eine nachhaltige Rehabilitation dürfte durch die Zürcher Produktion - trotz Staraufgebot - nicht zu erwarten sein; etwas mehr als eine Maus gebar der hehre Berg dennoch - und hat immerhin ein freundlich mildes Sommerlüftchen ins Zürcher Tiefland geschickt.