Gleiche Bohémiens, andere «Bohème»

Anna Kardos, Tages-Anzeiger (27.04.2009)

La Bohème, 24.04.2009, Luzern

Sie sind alle da: Mimì und Rodolfo, Musetta, Marcello, der Musiker Schaunard und der Philosoph Colline. Alle treten sie auf in der «Bohème» von Ruggero Leoncavallo. Der Komponist wie sein ungleich berühmterer Zeitgenosse Puccini hatten denselben literarischen Stoff gleichzeitig entdeckt. Ein richtiggehendes Wettkomponieren begann, aus dem Puccini doppelt bekränzt hervorging: Seine «Bohème» gelangte als Erste zur Aufführung. Und: Sie stand höher in der Gunst des Publikums.

Trotzdem ist Leoncavallos «Bohème», die seit Freitag im Luzerner Theater in der Regie von Nelly Danker gezeigt wird, nicht bloss zweite Wahl, sondern verfolgt einen eigenen Ansatz. Die Verklärung des Künstlerlebens und die unerträgliche Leichtigkeit des Seins weichen einem kritischeren Blick. So wird «Leichtigkeit» hier zur Utopie, hinter der ständig die «Unerträglichkeit» lauert.

Zunächst ist aber noch alles in Butter: Ausgelassen feiern die Bohémiens im Café Momus. Nur der Besitzer des Cafés (herrlich komisch: Martin Nyvall) ist darüber nicht besonders erfreut, hat er doch von seiner Kundschaft seit geraumer Zeit keinen roten Heller mehr gesehen. Strippenzieher ist Schaunard, der von Howard Quilla Croft mit beeindruckender Bühnenpräsenz und komödiantischem Talent dargestellt wird.

Man könnte vielleicht behaupten, dass die Kreativität einer Inszenierung umgekehrt proportional zur Grösse des Opernhauses zunehme. Dem Publikum wird jedenfalls ein differenziertes Schauspiel voller schöner Details geboten. Damit folgt Nelly Danker auch einer Eigenheit des Stücks: Es ist gar nicht so sehr «grosse Oper». Im Mittelpunkt steht der Librettotext, Arien dagegen finden sich selten. Und ganz allgemein hat die Musik eher untermalenden, illustrierenden Charakter, was das Orchester unter Mark Fosters Leitung lustvoll herausstreicht.

Aber natürlich wird auch gesungen. Von Tanja Ariane Baumgartner (Musette) mit grosser Klarheit und elegant geformten Phrasen, von Jason Kim (Marcello) in schönster Tenormanier mit getragenen Kantilenen. Dichter Rodolfo (Tobias Hächler) fällt durch seine tragende, kernige Stimme auf, und Boris Petronje als Colline präsentiert seinen Bass (nicht ohne Ironie) mit lang gehaltenen, dröhnenden Tönen, die jedem russischen Männerchor Ehre machen würden.

Dass erst das Fressen und dann die hehre Kunst kommt, wird im Verlauf des Abends deutlich. Das Los wendet sich: So bitter wird die Armut, dass alle Leichtigkeit verfliegt und sogar die Liebe stirbt. In seiner Enge und Kargheit spiegelt das Bühnenbild von Werner Hutterli die Gefühlswelt der Figuren wider.

Als die todkranke Mimì - von Madelaine Wibom trotz kleiner stimmlicher Mängel anrührend gespielt - ein letztes Mal zurückkehrt, ist die Verbindung zu ihren Freunden gekappt. Einer Kranken mag sich keiner so recht zuwenden, und Mimì stirbt völlig allein, sich in eine Traumwelt von Liebe und Glück hineinfantasierend. Die anderen bleiben am Leben, der Traum von der Bohème aber ist ausgeträumt.