Die andere «Bohème» als die modernere

Herbert Büttiker, Der Landbote (27.04.2009)

La Bohème, 24.04.2009, Luzern

Ein starkes Stück: Das Luzerner Theater greift zur anderen «Bohème» und zeigt, wie packend Ruggero Leoncavallos Version neben der von Puccini bestehen kann.

So beliebt Giacomo Puccinis Oper über die Pariser Künstler-Bohème und die Liebesgeschichte des Malers Rodolfo und der Floristin Mimì ist, so unbekannt ist das Werk des um ein Jahr älteren Ruggero Leoncavallo (1857–1919). Warum nicht zum vorneherein feststand, dass Puccini das Konkurrenzwerk verdrängen würde, lässt sich jetzt in Luzern nachvollziehen. Die beiden Opern haben den Zeitstil und viele szenische Aspekte gemeinsam, aber in ausgeprägter individueller Eigenart. Sie sind sich wohl zu nah, um nebeneinander zu bestehen, aber auch zu verschieden, um gegeneinander ausgespielt zu werden.

Leoncavallo war Musiker und Literat nach dem Vorbild Wagners, zu dem er in Bologna Kontakt hatte, und trug das «Bohème»-Sujet zunächst seinem Freund Puccini an. Weil dieser kein Interesse zeigte, machte er sich selber an die Arbeit. Puccini seinerseits kam dann doch auf den Geschmack, aber ohne Leoncavallo ins Vertrauen zu ziehen. Das bedeutete das Ende einer Freundschaft und die Uraufführung zweier Opern mit Szenen aus Henri Murgers Roman fast gleichzeitig. Puccinis Oper kam am 1. Februar 1896 in Turin heraus und – zunächst mit grösserem Erfolg – Leoncavallos «Commedia lirica in quattro atti» am 6. Mai 1897 in Venedig.

Dieser Erfolg, das lässt sich in Luzern wieder hören, hat seine Gründe in der sehr attraktiven Musik. Da ist die ausgreifende emotionale Melodik im Stil der «Pagliacci», aber auch beschwingte Salonmusik, eine auch effektvoll-raffinierte Musik, durchzogen von Anspielungen auf die Operngeschichte, wobei Eklektizismus und eine dem Bildungsmilieu der Bohème-Künstler entsprechende absichtsvolle musikalische Dramaturgie ineinanderfliessen. Dem musikalischen Reichtum entspricht eine Konzeption des Stücks, das die Künstlerclique vielfältiger ausleuchtet als Puccinis auf Sopran und Tenor fokussiertes Werk. Fünf gewichtige Partien und etliche ebenfalls dankbare Nebenfiguren erhalten kraftvolle Kontur. Im kühnen Nebeneinander von Komödie (1. und 2. Akt) und veristischem Drama (3. und 4. Akt) und in der prägnanten Zuspitzung der Bohèmeproblematik zeigt sich neben dem musikalischen Gespür die intellektuelle Ader Leoncavallos.

Mit Witz in die Gegenwart

Mit anderen Worten: Diese «Bohème» ist gut, ja wohl sogar besser für ein ambitioniertes Regieteam, das unter die Oberfläche der pittoresken Erzählung leuchtet und Gegenwartstheater machen will. Das gelingt der jungen Regisseurin Nelly Danker witzig und eindrücklich mit frecher Überzeichnung im Burlesken und Reduktion im Dramatischen. Werner Hutterli stattet das Café Momus mit Billardtischen aus, der Innenhof, wo Bürger- und Bohèmewelt mit Getöse aufeinanderprallen, konfrontiert Kasernengrau mit Flohmarktflair, Marcellos und Rodolfos Zimmer (3. und 4. Akt) sind abstrakt-karge, enge Gehäuse, in denen die Bohème-Ideale sich selber Lügen strafen. Janine Jankas teilweise auch gesuchte Kostümideen treiben die schönsten Blüten, im Chor der Künstlerprominenz des 20. Jahrhunderts versammelt, von Maria Callas bis Niki de St. Phalle, von Gilbert und George bis Frank Zappa.

Souverän und intensiv

Die Regie neigt zum Plakativen, vom vollblütigen Gesang kommt der Impuls des Humors und der Leidenschaften, und das Luzerner Ensemble schwelgt beachtlich in der Opern-Italianità. Leoncavallo ordnet die Stimmen als Konfliktpaare mit ausgeglichener dramatischer Gewichtverteilung anders als Puccini an. Tanja Ariane Baumgartner (Mezzosopran) und Jason Kim (Tenor) geben das Paar Musette und Marcello, Madeleine Wibom (Sopran) und Tobias Hächler (Bariton) Mimì und Rodolfo, alle mit der Fähigkeit zu grosser Emphase und Glaubwürdigkeit, vom charmanten Chanson-Auftritt Musettes, zu den Verzweiflungsausbrüchen der Männer ob der desolaten Existenz bis zu Mimis stillem Sterben. Howard Quilla Croft spielt als komödiantischer Bariton souverän die Hauptrolle des Cliquenführers Schaunard, der sich selber am Klavier begleitet und durch nichts erschüttern lässt. Mit vokaler Prägnanz tragen das weitere Ensemble und hervorragend auch der Chor zum intensiven Bühnenleben bei. Gesteuert wird es vom Dirigenten Marc Foster und getragen vom ausgezeichnet disponierten Luzerner Sinfonieorchester mit genauem Spürsinn für die Eloquenz und den Schmelz von Leoncavallos Musik.