Aus jedem Dunkel steigt ein Licht

Werner Pfister, Zürichsee-Zeitung (03.07.2006)

Tiefland, 01.07.2006, Zürich

Nach über fünfzig Jahren kehrt «Tiefland», einst Kassenschlager an Stadt- und Staatstheatern, ans Opernhaus zurück. Ein Erfolg auch heute; die Inszenierung indes löste einigen Protest aus.

Zugegeben, die Oper «Tiefland» macht es sich mit ihrer naiven Schwarz-Weiss-Malerei, mit ihrer Einteilung in Gut und Böse (allzu) leicht und uns damit schwer. Wer droben wohnt, in würzig reiner Bergluft und herzwarmer Eintracht mit den Tieren auf der Alm und also näher dem Himmel, der ist gut (der Hirt Pedro). Wer drunten lebt, im dekadenten Tiefland, wo Industrialisierung und Profitoptimierung den Menschen längst dem Leben entfremdet haben und in Missgunst und buhlerische Sünde treiben, ist schlecht (vor allem Sebastiano).

Und erst recht der Glaube daran, dass dieses Gute über das Böse siegen kann (und wird), ist heute bestenfalls noch Stoff für Berg- und Heimatromanheftli aus dem Kioskangebot, «Herzen zwischen Alpenrosen» heissen sie oder «Aus jedem Dunkel steigt ein Licht». Folgerichtig hat sich Matthias Hartmann für eine radikale Aktualisierung der Oper entschieden und ihren Inhalt, jedenfalls was das Vorspiel betrifft, entsprechend umgeschrieben.

Frankenstein

Sie spielt nun ausschliesslich im Tiefland. Die heile Bergwelt indes ist eine von vielen imaginären Vorstellungswelten, in die Sebastiano seine in einem Genlabor gezüchteten, gleichsam biografielosen Lebewesen nach Belieben hinein versetzen kann. Das tönt nach x-beliebiger TV-Science-Fiction-Soap und ist leider auch nicht mehr, operiert mit naiv grusliger Gefühligkeit à la Frankenstein: ein Versuchslabor, Sebastiano an der Kontrollzentrale, vier vorderhand «bewusstseinsleere» Menschen (unter ihnen Pedro), denen nun per Drähte und Arm-Manschetten je eine innere Vorstellungswelt einkodiert wird. Lichtlampen blinken bunt dazu - ob das nun wirklich «glaubhafter» ist als das zugegeben naive Opernlibretto?

Zu sehen ist das, rein äusserlich, auf der Bühne und gleichzeitig, nämlich «innerlich», in einer Video-Installation, die technisch den Fehler hat, dass Bild und Ton nicht wirklich synchron laufen. Aber all das vergisst man spätestens nach diesem Vorspiel, das wie ein modern aufgemotztes Märchen daher kommt, denn ab Akt eins wird so ziemlich gespielt, was in der Partitur steht, wenn auch nicht in den Pyrenäen und Ende des 19. Jahrhunderts, sondern in Deutschland zur Zeit des aufschwungvitalen Tausendjährigen Reichs.

Idealbesetzung

Das bekommt der Aufführung sehr, bekommt der schwer lastend deutschtümelnden, nussbaumfournierten Kontor-Architektur des Bühnenbildes von Volker Hintermeier ebenso wie den politisch wunderbar korrekten Kostümen (Su Bühler). Und bekommt dem Spiel, von Matthias Hartmann nun schnörkellos und mit gutem Gefühl für Tempo und Timing inszeniert. Das will etwas heissen, denn die Musik fordert mit eingeschobenen Erzählungen und retardierenden Rückblicken immer wieder ihren Tribut.

Dafür steht in den Hauptpartien eine Idealbesetzung zur Verfügung. Peter Seiffert (nur wenige Wochen nach seinem Tristan-Debüt in Berlin) singt und agiert als Pedro mit heldentenoraler (auch mal herrlich «tumber») Siegfried-Attitüde: ein vokales Verwöhnfest erster Güte. Petra Maria Schnitzer macht als Marta die innere Entwicklung von einer als Folge früher sexueller Übergriffe devot gewordenen Geliebten zur selbstbewussten liebenden Gefährtin Pedros in jeder Geste, in jedem Ton glaubhaft. Matthias Goerne bringt als Sebastiano, als schwerfälliger Bösewicht im Wolfpelz, seinen dunkel verschatteten, in der Höhe mächtig expansiven Bariton zu prächtiger Wirkung.

Keinerlei Klangsuppe

Eine Entdeckung in den kleineren Partien ist Eva Liebau als ungemein anrührende Nuri. Bei László Polgár als Tommaso vermisst man indes eine wirklich bassgewaltige Autorität. Pfiffig, immer wieder aufreizend und zuweilen auch nervig und ganz auf den «Mädel-Stil» der dreissiger Jahre zugeschnitten: Christiane Kohl, Liuba Chuchrova und Kismara Pessatti als Pepa, Antonia und Rosalia. Übrigens für sämtliche Beteiligten ein Rollendebüt!

Dass «Tiefland» mehr ist als ein deutscher Zweitaufguss des italienischen Verismo, beweist Franz Welser-Möst, indem er d'Alberts Musik, stilistisch oft etwas gar kunterbunt zwischen Wagner, Meyerbeer und Brahms mäandrierend, mit gleichsam doppelter Sorgfalt dirigiert. Und siehe da, plötzlich ist man fasziniert von den Finessen der Instrumentation, von der Fülle des melodischen Einfalls und der hell schimmernden Luzidität des Klangs. Nichts von kaloriengesättigter Klangsuppe mit obenauf schwimmenden Fettaugen, nichts von blutleerem Epigonentum. Das ist vielleicht die grösste Überraschung bei diesem respektablen Revival und wurde entsprechend frenetisch bejubelt.