Aus dem Schatten geholt

Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (29.04.2009)

La Bohème, 24.04.2009, Luzern

«La Bohème» in der Version Leoncavallos im Theater Luzern

Wer kennt sie nicht, den Dichter Rodolfo und den Maler Marcello, ihre Gefährtinnen Mimì und Musetta, den Philosophen Colline und den Musiker Schaunard? Doch der Titel «La Bohème» verbindet sich unweigerlich mit dem Komponistennamen Puccini. Es war das Pech Ruggero Leoncavallos, dass seine fast gleichzeitig begonnene Vertonung von Henri Murgers «Scènes de la vie de bohème» erst fünfzehn Monate nach Puccinis Version zur Uraufführung gelangte und den Popularitätsvorsprung, den jene von Anfang an genoss, nie mehr einholen konnte. Das unternehmungslustige kleine Luzerner Theater hat nun die andere «Bohème» aus ihrem Schattendasein befreit und dabei eine hörens- und sehenswerte Entdeckung gemacht.
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Feste und Nöte

Weshalb Puccinis Werk ungleich erfolgreicher war, wird einem zwar bald klar: Es ist nicht nur in der melodischen Erfindung stärker und einheitlicher, sondern auch schlüssiger und kompakter in der Handlungsführung. Während Puccini zuerst das Leben der vier Bohémiens in ihrer Mansarde schildert, um dann mit der Begegnung und der Liebesszene von Rodolfo und Mimì gleich einen ersten Höhepunkt zu erreichen, beginnt Leoncavallo mit dem Weihnachtsfest im Café Momus, wo sich eine bunt gemischte Gesellschaft trifft. Auch im zweiten Akt wird gefeiert, wenngleich improvisiert. Musetta ist nämlich wegen Zahlungsverzugs samt ihrem Hausrat aus ihrer Wohnung ausquartiert worden und empfängt ihre Gäste – in der Luzerner Aufführung glaubt man unter diesen Prominente wie Warhol und Beuys zu entdecken – im Hof des Hauses. Lebt Leoncavallos «Bohème» bis dahin von personenreichen Tableaus und einem raffinierten, gelegentlich parodistischen Spiel mit verschiedenen musikalischen Idiomen, so wird im dritten und vierten Akt aus der «commedia lirica» eine auf die vier Hauptfiguren konzentrierte Liebes- und Künstlertragödie, deren Gefühlstiefe sich in Arien und Duetten von weit gespannter Melodik mitteilt. Denn nicht nur sind die Bohémiens beim Veristen Leoncavallo konkreter als Künstler charakterisiert, auch die Trennung der beiden Liebespaare ist hier expliziter eine Folge der mit dem Künstlerdasein verbundenen materiellen Not.

Spannungsvoller Austausch

Obwohl Letzteres im Bühnengeschehen kaum nachvollziehbar wird, erweist sich Leoncavallos Oper als ideale Spielvorlage für das junge Luzerner Ensemble. Auf der von Werner Hutterli mit minimalem Aufwand dekorativ und stimmungsdicht ausgestatteten Bühne erhalten sowohl die Solistinnen und Solisten wie der Chor dankbare Aufgaben, zumal die Kostümbildnerin Janina Janke ihrer Phantasie freien Lauf gelassen hat. Während die ersten beiden Akte ganz aus dem Ensemblespiel leben, entsteht im unmittelbar packenden zweiten Teil nicht nur zwischen den Paaren Rodolfo und Mimì bzw. Marcello und Musetta, sondern auch zwischen den zwei Frauen und den zwei Männern ein spannungsvoller Austausch. Apart ist, dass Leoncavallo den Sopranpart Mimìs mit der Baritonstimme paart und den Tenor mit dem Mezzosopran.

Dabei stehen Marcello und Musetta im Stück wie in der Rollengestaltung Jason Kims und Tanja Ariane Baumgartners fast gleichrangig neben Rodolfo und Mimì. Dass diese in Nelly Dankers dichter, auf den Kern des Geschehens zielender Regie das stärkste Eigenleben gewinnt, verdankt sich der intensiven vokalen und darstellerischen Präsenz Madelaine Wiboms, von deren Vielseitigkeit auch eine kürzlich erschienene schöne CD mit Kunst- und Volksliedern aus ihrer schwedischen Heimat zeugt («Längtan, Longing, Sehnsucht», Suisa). Tobias Hächler als Rodolfo profiliert sich vor allem mit seinem kraftvollen, kernigen Bariton. Die Akustik des kleinen Luzerner Theaters erweist sich selbst in den beiden ersten, im Parlando-Stil gehaltenen Akten als ungeeignet, doch das hindert weder das von Mark Foster dezidiert geleitete Orchester noch das insgesamt überzeugende Sängerensemble daran, sich dem vergessenen Werk des «Pagliacci»-Komponisten mit vollem Einsatz zu widmen.