Karussell aus Plüsch und Grauen

Herbert Büttiker, Der Landbote (12.05.2009)

Agrippina, 10.05.2009, Zürich

Ausstattung ist alles, lautet die Devise für Händels «Agrippina» im Opernhaus. Neben dem Bilderrausch hält sich der musikalische in Grenzen. Die Grippe geht um.

Der Regisseur David Pountney hat sich noch nie lumpen lassen. Jetzt hat ihn Händels Vorlage – drei Stunden Arien und Intrigen – zusammen mit Johan Engels (Bühnenbild) und Marie-Jeanne Lecca (Kostüme) zu einer geradezu gigantischen Ausstattungsorgie verführt. Deren Fantasie hat mit historischem Barock nichts zu tun, aber alles andere ist da, vom Disney-Plüsch zum surrealistischen Edelkitsch, von der TV-Klamotte zum Kettensägenschocker – eine, wenn man will, meisterliche Barocky Horror Picture Show, die gut und teuer ist und eine Augenweide. Selbst Hirsts Diamantschädel scheint das Opernhaus angekauft zu haben.

Eigentlich erzählt «Agrippina» mit historischen Figuren aus der römischen Geschichte, wie die Politik funktioniert, in der sich dem obersten Ziel – Herrschen – alles unterordnet. Agrippina will ihren Sohn Nero an die Macht bringen. Lüge und Verstellung, Anbiederung und falsche Versprechen, Sex und Mord, das ganze zynische Arsenal der Intrige kommt ins Spiel. Händel und sein Librettist, der Kardinal und Diplomat Vincenzo Grimani, zeigen das alles aber nicht mit melodramatischer oder moralisierender Verbissenheit, sondern als ein Karussell, das sich mit Leichtigkeit und Ironie dreht: gegen fünfzig Nummern treiben es an, vor allem Arien in abwechslungsreicher Gestalt und zum Lieto fine ein tänzerischer Kehraus.

Die ironische Leichtigkeit hat im Opernhaus das Gewicht eines schweren Albtraums, zum Schreien komisch eben. Ein Blutzylinder bildet die Achse der Drehbühne, deren Fächer führen vom Thronsaal ins Schlachthaus, vom gespenstischen Labor, in dem Leichen aufgebahrt sind, ins Schlaf- und Badezimmer der Poppea, das von Untoten bevölkert ist. Eine Gruppe von Figuranten ergänzt mit Körperskulpturen die opulente Bühnenwelt, in der die Figuren der Handlung ihren ja auch sängerischen Auftritt haben. Alle beherrschen sie die musikalische Beiläufigkeit bewundernswert, aber insgesamt bleibt eine Diskrepanz zwischen der halluzinatorischen Behauptung oder dem Brechstangenhumor der Bühne und dem, was die Musik hier an Psychologie und Pathologie oder Komödiantik zum Ausdruck bringt.

Der teilweise gedämpfte sängerische Furor an der Premiere mag diesen Eindruck verstärkt haben. Alexander Pereira bat um Nachsicht, er nannte zwei von der Grippe Betroffene und deutete an, dass der Virus im Hause aber weiter verbreitet sei. Und tatsächlich konnte das medizinische Labor auf der Bühne in etlichen Fällen nicht helfen. Die krankgemeldete Eva Liebau allerdings sang nur zu Beginn auf Sparflamme, die musikalisch wie theatralisch hochvirtuose Hauptszene der reizenden Poppea, in der sie mit ihren Koloraturen im Schlafzimmer gleich drei Männer managt, wurde zu einem Höhepunkt des Abends. Auch Alfred Polgar als ziemlich blutloser Imperator Claudius blieb zumeist sattelfest in seiner musikalischen Aufgabe.

Koloraturen und Kalauer

In beiden Fällen bewährte sich offenbar ein grundsolider sängerischer Motor. Mit einem solchen und offensichtlich uneingeschränkter Energie brillierte Anna Bonitatibus. Für den Lümmel Nero, der von Mama Agrippina machiavellistische Unterweisung und Ohrfeigen bekommt, hatte sie die schnellsten und geschliffensten Läufe des Abends auf Lager. Als lädierte Figuren, aber mit robusten Stimmen kalauerten in Nebenrollen José LemosWiebke Lehmkuhl und vor allem Ruben Drole mit Arien durch das Stück.

Einzige integre Figur der Oper ist der Statthalter Ottone, der dem Kaiser das Leben rettet, bald aber als Verräter denunziert wird: Das Lamento «Voi che udite» des von allen Verlassenen gehört zu Händels bewegendsten Arien – mit Marijana Mijanovics dunklem, in den Vokalfarben aber wenig homogenem Alt das musikalische Zentrum des Stücks. Ottones genaues Gegenbild ist die Titelheldin. Vesslina Kasarova macht sie mit viel Temperament zur mondänen Dame und Megäre. Nach dem ersten Auftritt auf dem Massagebett und nur ins Frottétuch gewickelt, erscheint sie in fünf, sechs aufwendigen Kostümen. Viele Facetten offenbart sie auch musikalisch, stimmliche Fragwürdigkeiten mit herausstechenden, überbetonten Tönen eingeschlossen, aber auch klangvoll virtuos und voller komödiantischer Pracht, so in der Arie «Ogni vento».

Am Ende erreicht sie ihr Ziel, wenn auch nicht durch ihre Ränkespiele, sondern durch kaiserlichen Entscheid. Mark Minkowski heisst der andere Herrscher des Abends. Souverän und mit sehr schnellen wie sehr langsamen Tempi fordernd führt er als Dirigent das Ensemble und das Orchester «La Scintilla». Anders als auf der Bühne stimmte beim Klangkörper das Verhältnis von spritziger Bewegung und Masse, wirkten Eleganz und barocke Fülle ganz organisch.