Ein Wahnsinn namens Liebe

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (02.06.2009)

Orlando furioso, 29.05.2009, Basel

Antonio Vivaldis Oper «Orlando furioso» im Theater Basel

Gute dreieinhalb Stunden mit zwei Pausen dauert die Barockoper «Orlando furioso» von Vivaldi, die am Freitag Premiere hatte. Sie dürfte trotz der wagnerschen Ausdehnung zum Publikumserfolg werden.
Die Geschichte vom «Rasenden Roland» gehörte im 18. Jahrhundert zu den Stories, die fast jedermann kannte. Sie handelt von der Liebeswut des Ritters Roland, die ihn in den nackten Wahnsinn treibt, und von mancherlei erotischen Verwicklungen. Neben vielen anderen Komponisten hat Antonio Vivaldi ihr eine dreiaktige Oper gewidmet, die 1727 am Teatro San Angelo in Venedig uraufgeführt wurde. Der «Prete rosso» zeigt darin eine erstaunliche Vertrautheit mit Liebesdingen – und eine musiktheatralische Kunst auf der Höhe seiner Zeit.

Die erotischen Irrungen und Wirrungen der halb märchenhaften, halb realistischen Figuren setzt Regisseur Barrie Kosky in seiner Basler Inszenierung mit der Sorgfalt eines orientalischen Geschichtenerzählers und der szenischen Radikalität eines modernen Bildererfinders um. Man kann nicht behaupten, dass der Abend wie im Fluge verginge, eine Nummernoper von diesem Umfang fordert ihre Zeit. Aber es wird vorzüglich gesungen und musiziert, und langweilig wirds nie.

Zu Beginn sehen wir die attraktive Zauberin und Verwandlungskünstlerin Alcina sich auf ihrer Insel im Sonnenschein räkeln (eine Wucht an Mezzosopran-Farbigkeit und Kraft: Franziska Gottwald), umsorgt und umschmeichelt von einem Quartett öliger Muskel-Jünglinge. Orlando (in der Hosenrolle mit dunklem, erotisch glühendem Alt: Delphine Galou) betritt die Szene als tobender Kapuzen-Wüterich, der den störenden Astolfo (in der Basstiefe etwas matt: Andrew Murphy) wie ein störendes Objekt hinwegfegt.

Orlandos Ziel ist Angelica, die schöne Prinzessin (einmal mehr betörend mit ihrem weich gefederten, drucklos geführten Sopran und eine barfüssige Ikone von Jugendlichkeit: Maya Boog), die sich indes dem vorübergehend unauffindbaren Medoro versprochen hat (der Countertenor Iestyn Morris mit schöner, rhythmisch nicht immer sattelfester Stimme). Daneben gibt es noch ein Pärchen, dessen Zusammenhalt durch die trickreichen Lockungen der nymphomanischen Zauberin Alcina – vorübergehend im Madonna-Look – heftig auf die Probe gestellt wird: den Ritter Ruggiero (mit wunderbar ausgeglichenem Countertenor und neckischer Irokesenfrisur: David DQ Lee) und seine Bradamante, die von Stephanie Hampl im Gothic-Look mit schauspielerischer Hingabe, aber noch etwas schmalem Sopran verkörpert wird. Dass immer wieder jemand mit Alcinas blaugrünem Liebestrank auf der Bühne aufkreuzt und am Ende gar eine halbnackte Alte sich daran betrinkt, ist ironische Pointe.

GEKÜRZT. Vivaldis Musik bezaubert durch ihren Reichtum an Melodien, Rhythmen, Klangfarben – und dies, obwohl die Basler Aufführung mit Andrea Marcon am Pult des Barockorchesters La Cetra auf Blechbläser und damit auch auf die kraftstrotzenden Arien mit Blechbläsern im zweiten Akt verzichtet (verkürzt sind ansonsten vor allem die bisweilen langfädigen Rezitative).

Aber es bleibt noch einiges an Schönheiten übrig: zum Beispiel die hinreissend geblasene Flötenarie «Sol da te» des Ruggiero, die mit herrlichen langen Vorhalten ausgestattete Angelica-Arie «Chiara al pari» oder das wutentbrannte Recitativo accompagnato des Orlando im zweiten Akt. Auch das fantasievoll traktierte Cembalo im kleinen, wach begleitenden Orchester ist der Beachtung wert.

PACKEND. Regisseur Kosky und seine Ausstatterin Esther Bialas tun eine ganze Menge, um uns die verwirrende Handlung verstehen und die Personen auseinanderhalten zu lassen. Im dritten Akt gab es sogar Szenenapplaus für das Bühnenbild, das einen üppigen Tempelgarten zeigt. Und dann verwischen die Opernmacher absichtsvoll und mit ganz und gar erstaunlichem Effekt die zuvor sorgfältig aufgebauten Identitäten. Alle Figuren treten nacheinander in derselben Maskierung auf – mit dem roten Wuschelhaar der Alcina und grünem Glitzerkostüm. Bis zu elf rote Zoras tummeln sich da auf der Bühne.

Und die Wirkung ist stupend: Man hört plötzlich, die Personen nicht mehr an ihrem Aussehen erkennend, genauer auf die Stimmen, identifiziert die Figuren auf diese genuin musikalische Weise. Wenn eine moderne Inszenierung eine solche Hinwendung auf die Musik bewirkt, darf man sie getrost genial nennen. – Heftiger Applaus im voll besetzten Theater Basel.