Je grösser die Erregung, desto üppiger die Verzierung

Susanne Kübler , Tages-Anzeiger (03.06.2009)

Orlando furioso, 29.05.2009, Basel

Auch Starregisseure haben manchmal keine Ideen: Barrie Kosky zeigt Vivaldis «Orlando furioso» in Basel.

Wären Opernregisseure börsenkotiert, man müsste auf die Aktie Barrie Kosky setzen. Sein Kurswert ist in den letzten Jahren rasant gestiegen - bis zu einem «Lohengrin» an der Wiener Staatsoper etwa, oder zu häufigen Einsätzen an der Komischen Oper Berlin, die der 43-Jährige ab 2012 zudem als Intendant leiten wird (als Nachfolger von Andreas Homoki, der dann nach Zürich wechselt). Auch als schillernde Figur hat sich Kosky einen Sonnenplatz im Opernbetrieb gesichert; als homosexueller Australier jüdischer Herkunft sieht und inszeniert er sich als Vertreter gleich dreier Minderheiten. Und natürlich sorgten seine Arbeiten immer wieder für Schlagzeilen: etwa als er am Wiener Schauspielhaus, das er von 2001 bis 2005 co-leitete, Monteverdis «Incoronazione di Poppea» für Klavier und drei Celli bearbeitete und mit Musik von Cole Porter ergänzte.

Entsprechend gespannt konnte man auf sein Schweizer Regiedebüt am Theater Basel sein. Auch mit Antonio Vivaldis Partituren lässt sich schliesslich einiges anstellen, und dass die amourösen Verwicklungen im «Orlando furioso» von 1727 Kosky liegen müssten, war anzunehmen. Tatsächlich führt schon das erste Bild in den Kern seiner Sicht aufs Geschehen: Da räkelt sich die Zauberin Alcina am (wasserfreien) Pool, vier fast nur mit Muskeln bekleidete Jünglinge bemühen sich mit Sonnencrème um sie und um einander.

Erotik also ist das Wort der knapp vier Stunden. Dafür sorgt mit lasziven Blicken und facettenreichem Mezzosopran Franziska Gottwald als nimmersatte Alcina, die Frauen wie Männer vernascht und in ihrem Rausch auch mal die Augen eines ihrer Lustknaben ausbeisst (es ist der einzige widerliche Moment an einem sonst überaus ästhetischen Abend). In ihrem Netz zappelt barfuss und mit schwerelosem Sopran eine ungemein jugendlich wirkende Maya Boog als Angelica. Auch Orlando, den Delphine Galou mit androgyner und tatsächlich auch sehr furioser Stimme gibt, verfängt sich darin. Und mit ihnen in den unterschiedlichsten Konstellationen von Liebe, Eifersucht und Täuschung Bradamante, Medoro, Ruggiero und Astolfo.

Dass da auf der Bühne (respektive im chic eingerichteten Haus der Alcina) immer etwas los ist, versteht sich. Allerdings ist es erstaunlich wenig. Wenn Ausstatterin Esther Bialas ihre Figuren nicht in Gothic- oder Glitterkleider, sondern in barocke Kostüme gesteckt hätte - vieles würde sehr nach konventionellem Stehen und Händeringen aussehen. Die libidogesteuerten Handgreiflichkeiten allein machen noch keine zeitgenössische Sicht auf ein Werk aus, und wenn Orlando nach seiner Rutschfahrt durchs Klo plötzlich in Alcinas üppiger Schuhsammlung steht, dann ist das zwar lustig; aber er hätte genauso gut in der Küche oder auf dem Mond landen können.

Immerhin lässt diese Regie Raum für die Musik, und der wird in Basel bis in den letzten Winkel genützt. Zwar spielt das Barockorchester La Cetra unter Andrea Marcon ohne Blechbläser, die entsprechenden Arien wurden gestrichen; aber auch so kann man sich über einen Mangel an Farben nicht beklagen. Ein leichtes, auch in den leisen Instrumenten ungemein präsentes Continuo gibt es da zu hören, wunderschöne Arien mit obligater Travers- oder Blockflöte, einen beweglichen, sinnlichen Streicherklang - und eine auffallend fantasievolle Sorgfalt im Umgang mit den Verzierungen der Vokalpartien.

Je grösser die Erregung, desto überdrehter die Ornamente: Auf diese Formel lässt sich der Umgang mit den Da-capo-Arien, dem Hauptproblem bei jeder heutigen Aufführung einer Barockoper, bringen. Szenisch hat man das Prinzip nach zwei, drei Arien verstanden; aber musikalisch macht es bis zuletzt Spass und Sinn. Und das will etwas heissen in einer Oper, in der die hohen Stimmen dominieren (nur die kleine Rolle des Astolfo ist mit einer Männerstimme besetzt).

Für den letzten Akt zieht dann auch Kosky noch einmal einen Pfeil aus dem Köcher. Nachdem sich in den ersten zwei Akten Alcina mal als brünette Badenixe, mal als 20er-Jahre-Blondine präsentiert hatte, tritt nun die ganze Belegschaft im Alcina-Look mit roter Perücke auf - ein sinniges Zeichen für die Abhängigkeit von der Zauberin ebenso wie für die Verwirrung der Gefühle. Den Eindruck einer gewissen Ideenleere mochte es trotzdem nur leicht zu korrigieren.