Oper wie aus dem Bilderbuch

Werner Pfister, Zürichsee-Zeitung (08.06.2009)

Cavalleria Rusticana, 06.06.2009, Zürich

Grischa Asagaroff schuf seine Neuinszenierung ursprünglich für Tokio, und Japan liebt Bilderbuchgeschichten. Genauso kommen die beiden Opern nun auch in Zürich daher – mit zwiespältigem Ergebnis.

Kaum setzt das Orchester in «Cavalleria rusticana» pianissimo mit seinem Vorspiel ein, geht schon der Vorhang hoch: Anlass für Grischa Asagaroff, eine hoch pathetische Pantomime zur Musik zu inszenieren. Kreuz und quer lässt er Santuzza über die Bühne irren, wiederholt sinkt sie entkräftet auf die Knie und zeigt mit Mimik und Gestik, wie unglücklich sie ist. Als wäre das nicht schon längst genug, sieht man – wovon in der Oper eigentlich nur die Rede sein sollte – auch noch den Grund dafür: Lola und Turiddu im Lichtschein des Schlafzimmers in brünstiger Umarmung. Aha, da geht der Geliebte mit einer anderen fremd.

Blutleere Staffage

Warum muss man das jetzt schon zeigen? Im Drama spielt es doch erst dann eine entscheidende Rolle, wenn davon die Rede sein wird. Aber es ist, als würde Asagaroff der Dramaturgie der «Cavalleria rusticana» nicht so richtig trauen. Statt das Spiel auf die paar Personen zu konzentrieren, lenkt er immer wieder mit zusätzlichem Aktivismus ab. Allein die erste – und für alles Nachfolgende eminent wichtige – Begegnung Santuzzas mit Mamma Lucia, dieses vergebliche Werben der betrogenen Frau um Verständnis bei der Mutter des untreuen Geliebten, wird mit mindestens vier weiteren «Bühnenhandlungen» kontrapunktiert. Es sind dies alles nur gestellte Szenen, blutleere Staffage und Dekor, aber sie lenken ab und stören die Konzentration auf die eigentliche Handlung.

Auf der Bühne soll es möglichst realistisch zugehen. So weit, so gut. Aber wenn die Darsteller – vor allem die oft präsenten Choristen – auf der Bühne so tun, als spielten sie ganz «auf normal», dann kommt dabei nicht viel mehr heraus als ein relativ planloses Hin und Her. Es ist nicht das pralle Leben, das hier ereignishaft zur Darstellung käme, sondern es ist alles nur dauernd bewegte Statisterie. Angesiedelt in der süditalienischen Provinz, zeitlich irgendwo zwischen Fellinis «La Strada» und der Protz- und Klotz-Architektur Mussolinis. Für diese zeichnet Luigi Perego verantwortlich, und was sich die Inszenierung tunlichst verbietet, nämlich das Stilisieren, das tut Perego fast bis an die Grenze zum Hässlichen.

Akrobatischer Spass

Allerdings, dieser Opernabend besteht nicht nur aus zwei unterschiedlichen Opern, sondern hat auch seine zwei Seiten. Denn «I Pagliacci» mit ihrer komödiantischen Oberfläche liegt dem Regisseur Grischa Asagaroff spürbar besser. Sieht man einmal vom Prolog ab, der allein schon aufgrund von Carlo Guelfis farblos und müde wirkender Baritonstimme ohne tiefer greifende Wirkung ist, gerät bereits der Auftritt der Schauspieler-Truppe zum bunt akrobatischen Spass.

Hier springt der Funke – und wie Asagaroff diese spielerisch komödiantische Oberfläche später auch in die abgrundtiefe, existentielle Tragik der Handlung überzuführen versteht, das verdient Respekt. Zu verdanken ist das in eminentem Masse auch dem schauspielerischen Talent von José Cura, der sowohl die Partie des Turiddu als auch des Canio singt. Blendend bei Stimme in den grossbogigen Melodien der «Cavalleria», ungemein vital artikulierend im Trinklied «Viva il vino spumeggiante». Das hat Format und wirkt echt in jedem Zoll. Vielleicht noch eindrücklicher ist sein Canio: ein alkoholabhängiger, alt gewordener Spassmacher, der von den Resten seines einstigen Kapitals zehrt, und das wohlgemerkt bei grandioser Stimme. Sein leicht torkelnder Abgang nach dem berühmten «Vesti la giubba» geht ans Lebendige, ja mehr noch, geht ans Herz.

Unschärferelationen

An diese Intensität reicht allenfalls noch Paoletta Marrocu (Santuzza) heran, auch wenn sie nicht ganz so unbekümmert aus dem Vollen singen kann und ihr Sopran immer wieder zu Schärfen neigt. Fiorenza Cedolins (Nedda) wirkt in der Höhe unkontrolliert und singt zum Teil mit belegter Stimme. Gabriel Bermúdez ist weniger stimmlich, aber darstellerisch ein kräftiger, behender Silvio; Liliana Nikiteanu singt die Lola mit verführerischem Verwöhnaroma in der Stimme. Cheyne Davidson trumpft als Alfio mit den nötigen grossen Tönen auf; Cornelia Kallisch gibt eine rigoros gestrenge, verhärmte Mamma Lucia.

Der Dirigent Stefano Ranzani setzt ganz auf die abrupten atmosphärischen Wechsel in beiden Partituren. Chor und Orchester der Zürcher Oper folgen seinen gestalterischen Impulsen mit bemerkenswerter Flexibilität, wobei die Koordination zwischen Bühne und Orchestergraben (noch) durch gewisse Unschärferelationen beeinträchtigt wurde und der zugriffige «Biss» dieser beiden Meisterwerke jedenfalls nicht optimal zur Wirkung kam.

Wie siamesische Zwillinge

Sie gehören zusammen wie siamesische Zwillinge, der Operneinakter «Cavalleria rusticana» von Pietro Mascagni und der Zweiakter «I Pagliacci» von Ruggero Leoncavallo. Und das, seit sie nach ihrer sensationell erfolgreichen Uraufführung 1890 in Rom resp. 1892 in Mailand (Toscanini dirigierte) noch im selben Jahr 1892 in Wien zum ersten Mal als «Zwillingspaar» gemeinsam auf die Bühne gebracht wurden. Diese Koppelung erwies sich als äusserst wirkungsvoll, und seither verbindet die Operngeschichtsschreibung mit diesen beiden Werken den Beginn des italienischen Verismo.

Das hat seine guten Gründe. Auf der Bühne agieren keine Götter, Fürsten oder andere erhabene Helden, sondern einfache Menschen wie du und ich, Frauen, Männer und Kinder in einer süditalienischen Dorfgemeinschaft. Neu am Verismo ist, dass auch diesen «einfachen» Leuten ein erhabenes Schicksal und die Fähigkeit zu tragischer Leidenschaft zugebilligt. Beides äussert sich in Menschlich-Allzumenschlichem: in Liebe und Eifersucht, Triebhaftigkeit und Brutalität, Verrat und Rache, Mord und Totschlag.

«I Pagliacci» endet gar mit einem Doppelmord. Zudem treibt Leoncavallo, der auch sein eigener Librettist ist, mit der Realität sein besonderes Spiel: Die Bühne wird im zweiten Akt selber zum Theater, die Protagonisten werden zu Figuren der Commedia dell’arte – Theater im Theater nennt man das, und so richtig interessant wird es, wenn sich ins gespielte Bühnengeschehen plötzlich die Wirklichkeit einmischt und die Protagonisten zwischen Bühne und Realität nicht mehr unterscheiden können. Das ist ein besonders trickreicher Aspekt des Verismo.