337 Jahre – und nichts für die Unsterblichkeit getan

Siri Kohl, Vox spectatritis (18.06.2006)

Vec Makropulos, 17.06.2006, Zürich

Nein, etwas für die Unsterblichkeit getan (um das leicht sinnverdrehte „Don Carlos“-Zitat aus der Überschrift weiterzuführen) hat Elina Makropulos wirklich nicht. Sie wurde ihr lediglich aufgezwungen vom eigenen Vater, dem Leibarzt Kaiser Rudolfs II., der seinem Herrn im Jahre 1601 ein lebensverlängerndes Elixier schmackhaft machen wollte und den Befehl erhielt, es zunächst an der eigenen 16jährigen Tochter auszuprobieren. Der Mensch als Versuchskaninchen.

Nun, das Elixier wirkt, und Elina Makropulos wird eine gefeierte Opernsängerin, die unter wechselnden Namen jahrhundertelang auf den verschiedensten Bühnen steht (sie ist damit wohl das Idol all jener, die heute den schnellen Verschleiss von SängerInnen und das vorzeitige Ende von Karrieren beklagen). Doch zum aktuellen Zeitpunkt, 1922 (sie trägt nunmehr den Namen Emilia Marty), ist sie des ewigen Lebens überdrüssig, dessen Sinnentleertheit sie zum seelenlosen, eiskalten, manipulativen Monster gemacht hat. In einem dramatischen Schlussmonolog deckt sie nach einer komplexen Handlung ihre wahre Identität auf und gibt das lebensverlängernde Rezept – eben „Die Sache Makropulos“ – an die junge Sängerin Krista weiter. Diese, schockiert, will es nicht und verbrennt es; nun kann Elina Makropulos endlich sterben.

So komplex wie die Handlung ist die musikalische Sprache Leos Janáceks, die sich nur selten lyrische, breit ausgesponnene Melodiebögen gestattet und stattdessen Wort für Wort als kleinste sinnstiftende Einheit gestaltet. Doch beim Schweizer „Lokalmatador“ Philippe Jordan, der zum ersten Mal in Zürich eine Oper dirigiert, ist diese Komplexität in besten Händen, wird faszinierend klar durchleuchtet und dynamisch fein abgestuft, bis der Zuschauer nicht nur von der krimiartigen Handlung, sondern auch von deren musikalischer Umsetzung gebannt ist. Schade nur, dass man, um in der Handlung nicht den Anschluss zu verlieren, seine Aufmerksamkeit stärker als sonst den Übertiteln widmen muss; vielleicht würde es sich, um Jordans Arbeit voll zu würdigen, lohnen, noch eine Aufführung zu besuchen und diese mit geschlossenen Augen zu verfolgen.

Verpassen würde man visuell nicht viel, denn die Regiearbeit von Klaus Michael Grüber ist zwar werkdienlich in dem Sinn, dass sie die Entfaltung der Handlung nicht behindert; eine detaillierte Personenführung oder gar gestalterische Einfälle, die inhaltliche Komponenten des Werks auf erhellende Weise augenfällig machen, sucht man jedoch vergebens. Mich beschlich mitunter das Gefühl, dass dieser doch als einer der Grossen der Branche geltende Regisseur entweder vollkommen über seinem Wert gehandelt wird oder aber nur noch vom Ruhm vergangener Leistungen zehrt. Das Einheitsbühnenbild (Titina Maselli) – ein bahnhofsartiges Niemandsland mit einer Lokomotive, die am Schluss Richtung Rampe fährt und Emilia Marty quasi überrollt – trägt ebenfalls wenig zum tieferen Verständnis des Werks bei (verkompliziert dieses allerdings auch nicht). Emilia Martys Garderobe, in der die Diva Hof hält und sich ihre Verehrer versammeln, wird sinnigerweise mit Bühnenversatzwänden angedeutet, wie sie auf Probebühnen Verwendung finden.

Überhaupt hat das Stück neben der philosophischen („Ist ewiges Leben erstrebenswert?“) auch noch eine sehr bodenständig opernbezogene Inhaltsebene, in der u.a. gezeigt wird, wie hündisch manche „Fans“ ihre Opernstars verehren und wie diese ihnen im besten Fall mit milder Herablassung, im schlimmsten mit offener Verachtung begegnen. Für zeitgenössisches Anschauungsmaterial hierzu begebe sich der interessierte Leser nach einer Vorstellung an die Bühneneingänge verschiedener europäischer und amerikanischer Opernhäuser! Und Janácek bzw. Karel Capek, der Autor der Komödie (sic!), auf der das Libretto zu „Die Sache Makropulos“ basiert, hätten für ihre Protagonistin keinen treffenderen Beruf als Opernsängerin finden können, ist doch die Sehnsucht nach dem ewigen Leben in Form ewigen Ruhms in dieser Branche tagtäglich augenfällig (man denke an die Vergöttlichung – teilweise gar Vergötzung – einer Callas).

Wie lösten nun die Sänger ihren Anspruch auf Nachruhm ein? Gabriele Schnaut als Emilia Marty zumindest wird in Erinnerung bleiben, gestaltet sie doch eine zutiefst berührende, abstossende, Mitleid erregende, tragische Gestalt. Stimmlich zu Anfang in den Extremhöhen noch mit sehr scharfen Tönen und einem flatternden Vibrato kämpfend, fand sie zusehends in die Partie hinein und sang einen mitreissenden Schlussmonolog. Ihre schauspielerische Leistung nach der Pause war der sängerischen ebenbürtig – leider kann ich hier über den ersten Teil keine Aussagen machen, da ich auf der linken Seite des Hauses sass und Klaus Michael Grüber sämtliche Szenen der Marty im ersten Teil auf der linken Bühnenseite angesiedelt hatte. Meine Sicht auf das Bühnengeschehen wurde also durch den Balkon verdeckt, so dass ich in der Pause den Platz wechseln musste – und konnte, denn das schöne Wetter in Kombination mit der Fussball-WM und dem doch eher unbekannten Stück hatte für einige freie Plätze gesorgt. (An Herrn Grüber und alle anderen in Zürich arbeitenden Regisseure: Es ist keine Zeitverschwendung, eine/n Regieassistentin/ten in den zweiten Rang zu schicken und prüfen zu lassen, ob die Bühnenhandlung auch dort von den meisten Plätzen – und nicht nur in der ersten Reihe – zu verfolgen ist!)

Neben Gabriele Schnauts Leistung müssen die anderen Sänger zwangsläufig abfallen (das Wort „Starvehikel“ könnte für „Die Sache Makropulos“ erfunden worden sein), doch verdienen speziell Alfred Muff als Baron Jaroslav Prus und Martina Janková als junge Sängerin Krista an dieser Stelle ein grosses Lob. Muff gestaltet den Baron zwar poltrig wie üblich, singt aber angenehm differenziert, etwa in der Szene, in der er erfährt, dass sein Sohn sich wegen seiner unerfüllten Liebe zur Marty das Leben genommen hat. Martina Janková gestaltet mit frischem Sopran und natürlichem Spiel eine junge Frau, die an der Schwelle zur Sängerkarriere steht und von den Leistungen der Marty tief beeindruckt, von ihren Allüren aber abgestossen ist.

Auch Boiko Zvetanov als einem vergangenen Alter Ego der Marty bis zum Irrsinn verfallener Baron Hauk-Schendorf und Rolf Haunstein als Anwalt Dr. Kolenaty (als einziger Nicht-Rollendebütant) halfen, den Abend packend zu gestalten. Peter Straka als Albert Gregor, der die Marty ebenfalls verzweifelt liebt, hatte sich als allergiebedingt indisponiert entschuldigen lassen, brachte seine Partie aber abgesehen von einigen verrutschten Spitzentönen hervorragend zu Gehör.

Am Ende gab es frenetischen Jubel für die Hauptdarstellerin und den Dirigenten und immer noch begeisterten Applaus für das Sängerensemble, der beim Erscheinen des Regieteams zu höflichem Klatschen abflaute (danach zeigte sich Grüber nur noch zusammen mit dem Ensemble, wohl um auch am Jubel teilzuhaben). Die Zürcher Erstaufführung der „Sache Makropulos“ hat dem Haus einen sehr gelungenen Abend beschert.