Peter Surber, St. Galler Tagblatt (29.06.2009)
Blitz und Donner kamen nur aus dem Orchester: Mit Wetterglück ging am Freitag die Premiere der Oper Samson et Dalila von Camille Saint-Saëns auf dem St. Galler Klosterplatz über die Bühne. Eine starke Produktion mit schwachem Schluss.
Die Klostertürme bleiben dieses Jahr ganz aus dem Spiel. Unbeteiligt lassen sie das alttestamentarische Drama zu ihren Füssen um die Vorherrschaft zwischen Philistern und Hebräern geschehen. Kein Lichtspektakel, keine Turmverzauberung wie in den Vorjahren bei «Giovanna» oder «Cavalleria».
Die Türme bleiben verschont
Das ist verständlich. Denn dass Samson mit seinen Riesenkräften die Klostertürme am Ende zum Einsturz brächte wie die Säulen des Tempels von Gaza: unvorstellbar, «breaking news» im Wortsinn, man kann sich die Schlagzeilen vorstellen und die Proteste, selbst wenn es nur künstliche Video-Projektion wäre.
Nein, an den St. Galler Türmen wird nicht gerüttelt. Regisseur Stefano Vizioli schält aus der kriegerischen Hülle den individuellen Kern heraus, die Liebesgeschichte über die verfeindeten Lager hinweg. Die rohen Stahlwände der Bühne (Ferdinand Wögerbauer zitiert Serras «Trunk» im Stadtpark) umschliessen einen Raum-Kern von bemerkenswerter Intimität.
Ode an den Wohlklang
Nicht himmelwärts, sondern hin zum Menschen geht der Blick und hinab zu den Abgründen einer Liebe, die den Hass mitträgt und Stärke in Schwäche verkehrt.
Mit dieser ins Persönliche und nicht ins Politische zielenden Deutung ist der Regisseur im Einklang mit der Musik von Camille Saint-Saëns. «Samson et Dalila» ist eine einzige schwelgerische Ode an den Wohlklang, und dies noch in den martialischsten Stellen des Librettos. Die Trompetenstösse, als Samson Jehova als «Dieu des combats» beschwört und seine Hebräer aufwiegelt, erklingen wie von fern. Kein Schlachtengemälde, sondern ein Gemälde des Mitleidens mit der geschlagenen Kreatur.
Hundertschaft der Chöre
Ein solches archetypisches Bild malt der Chor im ersten Akt. Ein langer stummer Zug grauer Figuren schleppt sich auf die Bühne, formiert sich zu wechselnden Körpern: Erst beziehungslos, dann in Gruppen, im Kreis als Trauer-Polonaise und schliesslich, die Arme untereinander verschränkt, zur Streitmacht geworden, lehnt sich das Volk mit Samson als charismatischem Anführer und der Bibel als «Waffe» gegen seinen überheblichen Unterdrücker Abimelech auf.
So klar wie die Regie den Chor hier führt, so schlagkräftig singt die Hundertschaft der Theater- und Opernchöre von St. Gallen und Winterthur (Einstudierung Michael Vogel) und des Prager Philharmonischen Chors. Ein satter Klang und vorbildliche Präzision zeichnet die Trauergesänge aus, aber auch Virtuoses wie die «gotteslästerliche» Fuge im ersten Akt, die volksliedhaften Freudengesänge der Hebräer oder die arabisierenden Philisterchöre.
Ein Traum aus Plüsch
Das Sinfonieorchester St. Gallen, hinter der Bühne, bringt die farbenreiche Partitur Saint-Saëns' zum Blühen. Sie bietet alles, was das Orchesterherz begehrt, attraktive Bläsersoli, Streicherwogen und ein namentlich im «Philisterakt» phantasievolles Schlagwerk. Dirigent Sébastien Rouland, auf Monitor gut zu beobachten, leitet das komplexe Gesamtgeschehen auf und hinter der Bühne feurig und mit straffem Zügel.
Trägt der Chor den ersten und dritten Akt, so dominiert als Zentralbild der diesjährigen Festspielproduktion das gewaltige Liebeslager in der Mitte der Bühne, ein Traum aus rotem Plüsch, das Reich der Verführerin Dalila. Und Podest für ein starkes Solistentrio. Elena Maximova bezirzt mit ihrem dunklen glanzvollen Alt und mit überragender, erotisch aufgeladener Präsenz.
Ihr verfällt nicht nur Samson, den Ian Storey mit weitleuchtendem Tenor in seiner ganzen Zerrissenheit zwischen Liebe und Politik zeigt, sondern auch Dagonpriester Anooshah Golesorkhi, der das Publikum wie schon im Vorjahr fasziniert, ein Elementarereignis an Stimmkraft, Genusslust und Gefährlichkeit.
Soviel Intimität ist noch keiner der bisherigen Festspielproduktionen geglückt.
Trotz der weiten Bühne und dem offenen Himmel spürt man hautnah das Gift der Liebe – die «tendresse» und «ivresse», mit denen Dalila Samson in ihre mit dem Violett der Rache bemalten Arme lockt.
Genaue Arbeit an gestischen und szenischen Feinheiten zeichnet die beiden ersten Akte aus – so die Verwandlung des Philisterthrons zur Bundeslade und zum Liebesnest.
Oder der Auftritt des Boten und der beiden Philister von oben: Sie sind aus der Stadt mal eben herbeigeeilt und öffnen den sonst klaustrophobischen Theaterrraum für einen Moment ins Offene. In diesen und weiteren Solorollen wirken mit: Roman Ialcic (Abimelech), Tijl Faveyts (eindrücklich als alter Hebräer), Carlos Petruzziello, Lusi Andres del Castillo und Jeong Soo Lee.
Im kurzen Schlussakt nach der Pause hat Samson sein Haar weg, verraten von Dalila, verdammt zum Sklavendienst am Mühlenrad – und da verliert auch die Inszenierung an Kraft. Die Philister sind, trotz kecker Tanzchoreographie (Annarita Pasculli), verzeichnet zu schleierschwenkenden Boudoir-Orientalen (Kostüme Annamaria Heinreich). Ihr Bacchanale ist ein vage gestaltetes, kaum nachvollziehbares Pseudoritual.
Das Ergebnis der Dagon-Beschwörung fällt entsprechend dürftig aus, Flämmchen zischen, Samson schreitet ein, Lichtgewitter, aus.
Der Würfel des Anstosses
Fatal aber ist der Würfel in der Bühnenmitte. Er zitiert die Kaaba. Das Heiligtum des Islam, umtanzt von Philistern und gesprengt vom Hebräer Samson: Religionsquark.
Aber, ob gewollt oder ungewollt, symptomatisch für die Problematik dieser Festspiele mit ihrem Anspruch, Opern in Bezug zum Klosterplatz zu bringen. «Samson et Dalila» überzeugt, so lange das menschliche Drama im Zentrum steht. Schwierig wird es, wenn am Ende der Hintergrund in den Vordergrund tritt, der Kampf der Religionen, der «clash of civilizations».
Religiöse Folklore wie hier im Finale kann nicht die Lösung sein. Doch von den Klostertürmen kam an diesem Abend auch keine Antwort.