Führer und Verführter

Thomas Schacher, Neue Zürcher Zeitung (29.06.2009)

Samson et Dalila, 26.06.2009, St. Gallen

«Samson et Dalila» an den St. Galler Festspielen

Der Mann hat übernatürliche Kräfte: Er reisst einen Löwen in Stücke, trägt ein Stadttor auf einen Berg hinauf und verbrennt durch eine List die Weizenfelder der Philister. Aber von einer Frau wird er zu Fall gebracht. Samson heisst der Held, seine Taten sind im alttestamentlichen Buch Richter nachzulesen. Camille Saint-Saëns und sein Librettist Ferdinand Lemaire haben aus der biblischen Geschichte eine Oper geformt. Bei der vierten Ausgabe der St. Galler Festspiele bildet «Samson et Dalila» das Kernstück der verschiedenen Veranstaltungen. Die Open-Air-Produktion auf dem Klosterhof steht, wie letztes Jahr, im Spannungsfeld zwischen Geistlichem und Weltlichem.

Wurde 2008 bei Verdis «Giovanna d'Arco» die mächtige Front der Kathedrale ganz bewusst in die Inszenierung integriert, so schaffen diesmal der Regisseur Stefano Vizioli und der Bühnenbildner Ferdinand Wögerbauer mehr Distanz zwischen Front und Bühne: Eine halbkreisförmige Mauer begrenzt die Spielfläche, die bald einen Platz vor dem Tempel der Philister, bald, belegt mit einem überdimensionalen Sofa, das Haus Dalilas andeutet. Die Kostüme von Annamaria Heinreich stecken einen Grenzbereich zwischen Phantasie und historischer Anlehnung ab. Ihre Farbsymbolik wird zusätzlich durch die raffinierte Lichtregie von Guido Petzold verstärkt.

Die Oper zeigt den hebräischen Richter Samson einerseits als starken Gottesmann, der sein Volk zum wahren Glauben und zum Sieg über die heidnischen Philister bringt, andererseits als Schwächling, der den erotischen Verführungskünsten Dalilas erliegt. Ian Storey verkörpert diese Zerrissenheit mit einer phänomenalen Darstellungsgabe und mit den stimmlichen Mitteln eines grossartigen Heldentenors. Kongenial steht ihm die Mezzosopranistin Elena Maximova als Dalila zur Seite. Bezwingend, mit welchem körperlichen und stimmlichen Einsatz sie ihr Doppelspiel treibt und damit Samson in ihre Fänge lockt. Mehr als Haudegen denn als Geistlicher erscheint der stimmgewaltige Anooshah Golesorkhi in der Rolle des Oberpriesters der Philister, der die Überlegenheit seines Gottes Dagon gegenüber dem hebräischen Jahwe beweisen will. Roman Ialcic als Statthalter von Gaza erleidet einen frühen Bühnentod und kann sich nicht entfalten. Von den kleinen Rollen ist noch Tijl Faveyts zu erwähnen, der dem wankelmütigen Samson ins Gewissen redet.

Ist die Handlung der Oper, insbesondere im mittleren Akt, ganz auf die beiden Titelfiguren ausgerichtet, so setzt Saint-Saëns in den Rahmenakten den Chor als starkes Gegengewicht ein. Chor und Opernchor des Theaters St. Gallen, verstärkt durch zwei weitere Chöre, zeigen nicht nur musikalisch eine überzeugende Leistung, sondern sind in den Massenszenen auch eine Augenweide, indem sie sich zu stets wechselnden Gruppierungen vereinigen. Einen Glanzpunkt setzt die Tanzkompanie des Theaters St. Gallen im Bacchanal des dritten Aktes (Choreografie: Annarita Pasculli). Das Sinfonieorchester St. Gallen spielt auch diesmal unsichtbar unter der Bühne, die Klänge werden, wie die der Solisten, über eine Lautsprecheranlage verstärkt. Der Dirigent Sébastien Rouland bringt die verschiedenen stilistischen Elemente der Partitur plastisch zum Klingen und meistert die Tücken der Akustik erstaunlich gut. Alles in allem ein höchst gelungener Abend.