Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (28.06.2009)
Zum vierten Mal St. Galler Festspiele, zum vierten Mal grosse Oper, open air auf dem Platz vor der Kathedrale. Diesen Sommer fiel die Wahl auf die alttestamentliche Geschichte von «Samson und Dalila».
Eine rostbraune Wand schliesst die Bühne ab, hinter ihr erheben sich majestätisch die beiden barocken Türme der St. Galler Kathedrale, aufgeschreckte Schwalben zwitschern aufgeregt durch den Klosterhof an einem perfekt warmen Sommer-Opernabend unter freiem Himmel. Die Wand erinnert in ihrer Form fatal an jene unselige Betonmauer, mit der sich die Israeli heute die Palästinenser vom Hals zu halten versuchen. Wie Schiessscharten wirken die Aussparungen für die Scheinwerfer.
Verschlafener Beginn
Im Alten Testament, und damit in der 1877 vollendeten Oper «Samson und Dalila» von Camille Saint-Saëns sind die Rollen umgekehrt verteilt: Die Israeli sind die Sklaven, die Philister ihre Herren. Entsprechend schleichen sich in St. Gallen die entkräfteten Hebräer am Anfang auf die Bühne, minutenlang, im Schneckentempo. Und ohne Musik, was überhaupt keinen Sinn macht, denn die Ouvertüre und die ersten Chöre evozieren gerade diese Stimmung, und der Regisseur Stefano Vizioli braucht schliesslich auch den Einsatz der Musik keineswegs, um uns noch etwas anderes zu zeigen. Ein verschlafener Anfang.
Zum Glück ist da noch Samson: Mit glühendem Tenor feuert Ian Storey, der in Zürich kürzlich als Tristan brillierte, sein Volk an, weckt den Glauben an die Macht seines Gottes, stachelt es auf zur Revolte gegen die dekadenten Philister. Wenigstens vokal kommt da etwas Leben in die Produktion, die ansonsten weiterhin nicht wesentlich über das Arrangieren der Massenszenen hinaus kommt, und sich auch nicht mehr massiv steigern wird: Ein hübsch, aber insgesamt brav angerichtetes Bacchanale und ein bisschen Feuerwerk am Ende bleiben schon die szenischen Höhepunkte.
Grandioses Duett
Es zeigt sich, dass Saint-Saäens' Bibeloper über weite Strecken kein Massenspektakel ist. Der ganze zweite Akt ist praktisch eine einzige grosse Liebesszene zwischen der Priesterin Dalila und Samson, der ihr schliesslich nicht widerstehen kann. Und dieses grandiose Duett, das nicht zufällig an den Mittelakt von Wagners «Tristan» erinnert, hatte es in St. Gallen in sich, denn nicht nur Ian Storey als Samson brillierte mit seinem sängerischen Format. Er wurde gar noch in den Schatten gestellt von einer fulminanten Dalila: Elena Maximova machte ihrem Namen alle Ehre. Die russische Mezzosopranistin, die an der Bayerischen Staatsoper in München schon verschiedentlich auf sich aufmerksam gemacht hatte, zog alle Register der Verführung, schmeichelte, trotzte, spielte mit Tränen und der grossen Theatergeste. Kein Wunder, dass Samson schwach wurde - und wir nach dem verschlafenen Anfang wach.
Auch der Bariton, Anooshah Golesorkhi als Oberpriester der Philister, wurde seiner Rolle gerecht, manchmal wollte er gar ein wenig viel und warf sich mit etwas übertriebenem Applomb in seine Einsätze. Und am Pult des St. Galler Sinfonieorchesters hielt Sébastien Rouland die Fäden ausgezeichnet in der Hand. Für die wenig überzeugende Übertragung des Orchesterklangs und ausfallende Mikrofone kann er indes nichts. Verglichen mit dem benachbarten Bregenz ist St. Gallen tontechnisch leider noch immer Entwicklungsland.
Tanz in der Kathedrale
Mit dieser Saint-Saëns-Premiere am Freitagabend wurden die St. Galler Festspiele eröffnet. Sie dauern noch bis zum 10. Juli. Natürlich steht die Oper vor der Kathedrale im Vordergrund des Programms. Daneben aber gibt es auch Tanz in der Kathedrale, choreografiert von Philipp Egli, eine konzertante Aufführung von Purcells «Dido und Aeneas» und eine Reihe von Konzerten, vor allem mit weiterer Musik von Saint-Saëns.