Dalila und die Ausweitung der Kampfzone

Herbert Büttiker, Der Landbote (29.06.2009)

Samson et Dalila, 26.06.2009, St. Gallen

Mit Dalilas sinnlichen Arien und der Ballettmusik hat Camille Saint-Saëns Opernhits geschrieben. Die St. Galler Festspiele präsentieren ein eindrückliches Ganzes aus Musik und Szene mit einer hervorragenden Protagonistin im Mittelpunkt.

Was für eine glückliche Werkwahl für die Oper vor der Kathedrale. Für beides: für die Kathedrale der prachtvolle biblische Stoff und oratorienhafte Chöre, für die Oper die Massenszenen der rebellierenden Hebräer und die Fortsetzung des Kampfes auf dem Feld der Erotik. Worauf es Camille Saint-Saëns und sein Librettist Ferdinand Lemaire mit «Samson et Dalila» zuletzt abgesehen haben, bleibt dabei noch die Frage. Vielleicht doch die «fatal attraction», die Geschichte von Samson, der auf dem Weg seiner «höheren» Bestimmung Dalila fallen lässt; von Dalila, die sich ihn mit berechnender Sinnlichkeit unterwirft – da kämpfen Verletzte um Selbstwert und um Selbstbestimmung, die nur Samson im finalen Kraftakt und Tod zurückgewinnt.

Dem Heldentenor gehört so der dritte Akt, doch gibt es bezeichnenderweise im spektakulären Opernschluss für die gefangenen (oder befreiten?) Hebräer keinen Platz, das politische Drama wirkt hier abgewürgt. Aber das Herzstück der Oper ist ohnehin in der Mitte zu finden. Es beginnt mit dem ersten Auftritt Dalilas und dem betörenden Mezzosopran-Zauber von «Printemps qui commence» und führt in die exotische Nacht, die Gewitter- schwüle und den Sex-Appeal schmach-tender Melodien.

Dominante Dalila

Was Dalila mit «Mon cœur s’ouvre à ta voix» verspricht, bleibt auf der Festspielbühne nicht im Unklaren. Die St. Galler Inszenierung macht mit ihrer subtilen Farben- und Lichtregie den Umschlag vom oratorienhaften, heroischen Stil der ersten Szenen zum erotischen Drama mit präzisen und im gewissen Sinn reduzierten Mitteln effektvoll und konzentriert zum Ereignis und öffnet damit auch die musikalische Schleuse. Elena Maximova lässt sich nicht zweimal bitten. Ihr höhen- wie tiefensatter Mezzosopran verströmt geschmeidig schönes Timbre, und er spannt sich zur griffigen Attacke: In jeder Faser kontrolliert ihre Dalila die Brisanz ihres repertoirereichen Verführungsspiels. Problemlos kann ihr die Regie auch die Ausweitung der Kampfzone zumuten. Auch das Duett mit dem Oberpriester ist hier ein Liebesspiel, und ins Menü gehören der Goldregen, der ihr in den Schoss fällt, und die Zitrusfrucht, die sie über dem Philisterbauch auspresst.

Der «perverse» erotische Machtkampf lässt an ein modernes Drama denken, wenn nicht an das tägliche Schauspiel, das heute politische Helden in den Fängen von Sexskandalen bieten. Die biblische Szenerie vertuscht und überhöht gleichzeitig die eigentliche Thematik der Oper, die sie in eine Reihe mit «Carmen» und vielen weiteren Werken stellt, in denen die «Femme fatale» die ebenso faszinierende wie erschreckende Hauptfigur ist. Stefano Vizioli (Inszenierung) und Ferdinand Wögerbauer (Bühne) aber akzentuieren das Politische. Dies gelingt ihnen in wuchtiger Bildsprache grandios, wenn auch im Nachdruck zuletzt nicht ganz unproblematisch.

Hervorragende Chorarbeit

Der Auftritt des Chores, noch bevor die Musik einsetzt, dauert lang. Jeder Mensch ein Schicksal, das unsere Anteilnahme verdient, wird da gesagt, und die Kostüme (Annamaria Heinrich), die nicht in der Bibelabteilung von Hollywood entliehen wurden, sondern die Strassenkleidung der Gegenwart zitieren, unterstreichen diese Nähe. Die epische Breite des Auftritts kommt den Chören auch musikalisch zugut. Der St. Galler Theaterchor und Opernchor, der Theaterchor Winterthur und der Prager Philharmonische Chor geben der Klage des geschundenen Volks klangstark und bewegend Ausdruck, famos beherrscht in der choreografisch anspruchsvoll inszenierten Fuge. Ein zweites Mal gefordert ist der Chor im Finale, diesmal im Kostüm der Philister und beim Festgelage. Das St. Galler Ballett treibt es mit aufreizender Choreografie des «Bacchanal» (Annarita Pasculli) in den Orgienkult. Dass der Massentaumel sich um einen schwarzen Kubus dreht, der dann im finalen Coup zerbirst, ist ästhetisch eine perfekte Umsetzung der Katastrophe, wegen der wohl unvermeidlichen Assoziation an die Kaaba aber auch sehr fragwürdig.

Weit vor wagt sich die Inszenierung auch in der Szene des gefangenen Samson. Auf dem Mühlrad, das der geblendete und gefesselte Samson dreht, liegen übereinander die Opfer der Shoa. Dass die Musik die Szene beglaubigt, hat mit den anklagenden Stimmen der Hebräer aus dem Hintergrund weniger zu tun als mit der Verkörperung des Samson durch Ian Storey. Mit seinem baritonal aufgerauten, vibratoschweren Tenor ist er mehr der emotional aufgewühlte als der schwungvoll glänzende Held, aber gerade deshalb richtig für eine Figur, die hier nicht als Kraftprotz im Lendenschurz, sondern als ein von moralischen Energien beseelter Vorkämpfer der Revolte verstanden sein will.

Erlesenes Handwerk

Allzu schwer hat es diese Revolte physisch ja auch nicht. So realitätsnah nämlich die Welt der Hebräer im asketischen Schwarz-Weiss gezeichnet ist, so üppig kommt mit Abimelech (Roman Ialcic) und dem dekadenten Hofstaat der Philister die exotische Fantasiewelt ins Spiel. Ausstatter und Kostümbildnerin zeigen hier ihr erlesenes Handwerk im Bunten. Keine braunen Schergen! Gezeichnet wird drastisch das Bild einer im ausschweifenden Luxus verweichlichten Machtelite – Anooshah Golesorkhis Oberpriester beeindruckt dabei mit urwüchsigem Bariton und präzisem Furor.

Die Spannweite des Orchestralen von da bis hin zum orientalisierenden Ornament ist gross, und das im Hintergrund platzierte Sinfonieorchester St. Gallen kann sich da durchaus als luxuriöser Klangkörper profilieren – auch wenn die Lautsprecher, über die es zu hören ist, einiges davon einebnen und vergröbern. Hinzu kommt, dass Sébastien Roulands Dirigat der Statik von Saint-Saëns’ Musik manchmal eher zu sehr verfällt, aber er sorgt für perfekte Koordination und auch für viele fulminante Momente nicht nur mit dem «Bacchanal» – insgesamt präsentieren die Festspiele eine musikalisch wie szenisch sehr stimmungsstarke Aufführung, für die das schlechte Wetter gern zwei, drei Stunden pausiert.