Mitspieler gesucht

Bettina Kugler, St. Galler Tagblatt (07.09.2009)

Der Schauspieldirektor, 04.09.2009, St. Gallen

Zum Spielzeitauftakt lässt Regisseurin Cordula Jung in der Tonhalle Mozarts «Schauspieldirektor» durch John Cages Geräuschoper «Theatre Piece» geistern. Ein anarchisches Vergnügen für Sänger, Musiker und spielfreudiges Publikum.

639 Jahre dauert das langsamste Stück der Welt. Gespielt wird es seit der Jahrtausendwende auf einer Orgel in Halberstadt; unterdessen hat es sich zum Dreiklang aufgeschwungen. «As slow as possible» nannte der Amerikaner John Cage diese Versuchsanordnung, deren Ausgang der Nachwelt vorbehalten bleibt. Vergleichsweise komisch und prestissimo geht dazu sein «Theatre Piece» in der Tonhalle über die Bühne – eine brachial eigensinnige Ouverture der gemeinsamen Spielzeit von Konzert und Theater St. Gallen; ein durchaus gewitzter Appell ans anwesende Stimmvolk, der Kunst auch künftig seine Gunst zu erweisen.

Welt in Unordnung

Nur eine gute Stunde, dann stehen die Stopuhren still, die Zeitfenster schliessen sich ebenso unspektakulär, wie sie zuvor aufgestossen wurden, und nichts, aber auch gar nichts stimmt mehr in der vermeintlich so vertrauten Welt des schönen Scheins, der holden Musica. Clever eingefädelt von John Cage, mit einer zum Brüllen komischen Mischung aus Ernsthaftigkeit und Lust am Irritieren, ausgespielt von Musikern des Sinfonieorchesters St. Gallen.

Dabei klingt, sieht man einmal vom Plunder auf dem Podium ab, den kreuz und quer geparkten Einkaufswagen, dem Bügelbrett samt Garderobenständer, den Luftballons und bunten Kissen, Plastikbechern und diversen Tischen, der Auftakt eigentlich noch sehr vertraut. Er stammt aus einem anderen «Theatre Piece»: aus Mozarts musikalischem Komödchen «Der Schauspieldirektor» von 1786, das hier und da noch bruchstückhaft durch den Abend geistern und sich mit komischer Verzweiflung in Szene setzen darf.

Da wetteifern die Primadonnen (Agata Wilswska als Madame Herz, Evelyn Pollock als Mademoiselle Silberklang – wer zwischen ihnen die Wahl hat, hat die Qual!) um den Rang der Sopranissima und gehen sich con fuoco an die geläufige Gurgel. Monsieur Vogelsang (Carlos Petruzziello) versucht mit Tenorschmelz und Nervenstärke zu beschwichtigen; der Impresario strukturiert das chaotische Treiben mit ewigen Wahrheiten, von denen Bariton David Maze ein Lied singen könnte: «Was Schauspieler darstellen, ist immer falsch dargestellt.» Oder: «Mit Verlaub: Theater machen ist eine Katastrophe.»

Was sich durchaus in den Aktionen spiegelt, die derweil im Saal und auf der Bühne ihren Lauf nehmen. Ein lila Luftballon macht sich laut fiepend Luft. Der Hornist bläst zur Schmetterlingsjagd. Der Bassist rezitiert an der Rampe aus einem Buch, animiert die Leute zum Mitklatschen; eine Geigerin versucht sich an der Zerteilung einer Orange mit Hilfe eines bleischweren Beiles. Madame Herz kontrolliert im Parkett Billette; der Fagottist verteilt Teddys und macht Schnappschüsse vom Publikum. Lässt lautstark Maiskörner in die Popcornmaschine rieseln. Summen und Brummen, Stimmengewirr aus diversen Lautsprechern. Links vom Mittelgang kommt eine Kissenschlacht in Gang. Süsser Popcornduft liegt in der Luft. Auf ein herrliches Klarinettensolo folgen beherzte Faustschläge; leise schaukelt der knallrote Boxsack.

Den Spieltrieb freigelegt

Andreas Spering hat guten Grund, sich hin und wieder am Geländer hinter dem Dirigentenpult festzuklammern: Wer weiss, was noch kommt im laufenden «time bracket», das er selbst per Megaphon durchgegeben hat. Die Musiker jedenfalls geniessen die Freiheit, selbstvergessen ihren Eingebungen zu folgen oder eine komische Breitseite ins Publikum zu spielen. Schwer zu sagen, welchen Anteil Regisseurin Cordula Jung am tatsächlichen Geschehen der halbszenischen Produktion hat; zu vermuten ist, dass sie vor allem den natürlichen Spieltrieb domestizierter Orchestermusiker freigelegt hat – und ihn, durchaus raffiniert, mit Überresten einer klassischen Klamotte in bizarre Dissonanz gesetzt hat. Nur infantil unernst ist es jedenfalls nicht gemeint, doch mit dem Kopf allein kommt man Cage auch nicht bei.

Der ideale Spielort für die witzig an die Tradition angedockte Geräuschoper, für das konspirative Meeting zwischen Cage und Mozart ist die Tonhalle, mag sich das Publikum auch permanent den Hals ausrenken und doch nicht alles mitbekommen, was die eingefahrene Andacht des Kunstgenusses frech durcheinander wirbelt – jenes Ritual, das den Konzertbetrieb noch wesentlich stärker im Griff hat als das Theater. Als Spielplatz mehr oder weniger dreister Provokation des Eingespielten sind beide weiterhin unverzichtbar.