Verstörungen

Alfred Zimmerlin, Neue Zürcher Zeitung (08.09.2009)

Wozzeck, 06.09.2009, Luzern

Der Gurlitt-«Wozzeck» im Luzerner Theater

Die dramatische Handlung wird in den nachgelassenen «Woyzeck»-Skizzen von Georg Büchner mit schnellen Wechseln angedeutet; heute würde man von Filmschnitten sprechen. Aus der Knappheit, mit der Büchner seine Dialoge in eine Handlung explodieren lässt, aus dem fragmenthaften Aufbau resultiert eine Modernität, die uns heute noch anspricht. Und die insbesondere im Expressionismus Furore gemacht hat: Erst 1913, zum hundertsten Geburtstag des Dichters, wurde das Theaterfragment erstmals aufgeführt. In den zwanziger Jahren dann haben zeitgleich und ohne voneinander zu wissen zwei Komponisten des Expressionismus daraus Opern geschaffen. Alban Bergs «Wozzeck» mit seiner grossen Form und seiner seismografisch den Text in alle Dimensionen ausleuchtenden, unter die Haut gehenden Tonsprache wurde zu Recht als eines der ganz grossen Musiktheaterwerke des zwanzigsten Jahrhunderts berühmt. Weniger bekannt ist der kürzere, näher an der Fragment-Form sich bewegende «Wozzeck» von Manfred Gurlitt (1890–1972), der nur wenige Monate nach dem Stück von Berg uraufgeführt wurde.

Dramatisch zugespitzt

Dass sich aber auch dieser andere «Wozzeck» bestens für die Bühne eignet und musikalisch eigenständig neben Berg besteht, hat das Luzerner Theater in einer Koproduktion mit dem Lucerne Festival bewiesen. Gurlitt als sein eigener Librettist ist nah am leicht gekürzten Büchner-Text, so wie er zur Entstehungszeit der Oper greifbar war. In achtzehn in sich geschlossenen Szenen und mit einem Epilog hat er das Werk vertont in einem mitunter erstaunlich polystilistisch wirkenden, zwischen Tonalität und freier Atonalität schwankenden Ton. Es tut gut, dass mit Mark Foster ein Dirigent am Pult steht, der die latente Gradlinigkeit von Gurlitts Musik aufbricht, der die Partitur dramatisch wirklich zuspitzt und ein Maximum an Expression und Wirkung aus ihr, dem Luzerner Sinfonieorchester und dem Ensemble herausholt.

Das Orchester wächst mehr und mehr in diese Musik hinein, der Chor des Luzerner Theaters (Leitung: Lev Vernik) sowie der Knaben- und Mädchenchor der Luzerner Kantorei (Leitung: Eberhard Rex) sind vorzüglich. Vor allem aber lebt die Aufführung von der starken stimmlichen und spielerischen Präsenz ihres Protagonisten: Der Bariton Marc-Olivier Oetterli als Wozzeck wurde zu Recht bejubelt. Ihm ebenbürtig sind indes auch die eindringlichen Auftritte von Simone Stock als Marie. Die Gegenspieler der «arme Leut», der Hauptmann (Thomas Gazheli), der Doktor (Patrick Jones), der Tambourmajor (Manuel Wiencke) sowie Utku Kuzuluk und Caroline Vitale zeigen, dass das Luzerner Ensemble zurzeit in ausgezeichneter Verfassung ist.

Theatrale Versuchsanordnung

Die Bühne von Werner Hutterli unterstreicht das Fragmentarische und macht aus dem Stück gleichsam eine theatrale Versuchsanordnung: Die quadratische, anthrazitfarbene Spielfläche ist leer, ab und zu wird ein Requisit gebraucht. Sie wird auf drei Seiten von einer mauerartigen Bank umrahmt, auf welcher der Chor Platz nehmen kann oder Personen auf ihren Auftritt warten. Auf dieser neutralen Spielfläche dominiert in den Kostümen (Ulrike Kunze) das Weiss, später erscheint mehr und mehr auch das blutige Rot. Plakativ, würde man zunächst meinen, doch erträgt das Stück diese plakative Seite erstaunlich gut. Denn Vera Nemirova inszeniert Gurlitts «Wozzeck» mit einem sicheren Gespür für seine Härte – und mit einem sicheren Handwerk. Sie ist nahe an der Musik und legt frei, wie das Aufeinanderprallen der sozialen Schichten hoch dramatische Vorgänge generiert.

An einer Stelle allerdings tut sie des Guten zu viel: Wie der Doktor vom Hauptmann in Büchners Juden verkleidet wird, um Wozzeck das mörderische Messer zu verkaufen, und so der Mord an Marie als eine einzige grosse Manipulation dargestellt wird, gibt dem Stück mehr Groteske als Brisanz. Verblüffend indes ist Nemirovas Idee, den Epilog Gurlitts an den Anfang des Werkes zu stellen: eine Art instrumentales Requiem, ein Trauermarsch, an dessen Schluss der Chor drei Mal Büchners berühmtes «Wir arme Leut» singt. Aus diesem Wort lässt Nemirova die Handlung entstehen – und am Schluss wieder irritierend darin versinken: Aus Lautsprechern erklingen die ersten Takte des Epilogs zur hell im Applauslicht ausgeleuchteten Bühne. Der Chor stellt sich auf und verneigt sich. Kein Ende. Verstörter, zaghafter Applaus, der sich erst mit der Zeit mächtig steigert. Selten wurde einem mit der eigenen körperlichen Reaktion so bewusst gemacht, wie erschütternd «Wozzeck» sein kann.