Der andere «Wozzeck»

Tobias Gerosa, Basler Zeitung (08.09.2009)

Wozzeck, 06.09.2009, Luzern

Opernsaison in Luzern eröffnet

Das Luzerner Theater eröffnet die Opernsaison mit «Wozzeck» – aber nicht demjenigen von Alban Berg, sondern als schweizerische Erstaufführung mit der Oper von Manfred Gurlitt. Eine lohnende Entdeckung, musikalisch und szenisch überzeugend umgesetzt.

Es ist eine seltsame Situation: Auf der Bühne läuft eine Handlung, die man sehr genau kennt. Die Texte – sehr verständlich gesungen und auf Übertiteln nachlesbar – stimmen aufs Wort. Aber die Musik ist anders, wenn auch hörbar aus derselben Zeit wie das, was man im Ohr hat.

Manfred Gurlitt, 1890 bis 1972, stützte sich bei seinem «Wozzeck» auf dieselbe fehlerhafte Edition von Georg Büchners Drama wie Alban Berg und nannte seine Oper daher genauso falsch nicht «Woyzeck». Bergs und Gurlitts Versionen sind textlich, dramaturgisch und teilweise auch im musiktheatralischen Gestus sehr nahe beieinander und wurden im Abstand von wenigen Monaten 1925 und 1926 uraufgeführt.

Von Plagiat kann aber keine Rede sein, dafür ist Gurlitts Musik zu eigenständig. Wo Berg auf strenge musikalische Formen setzt, komponiert Gurlitt konventioneller psychologisch und tonal. Sein Orchester ist kleiner und kammermusikalischer eingesetzt.

dichte. Regisseurin Vera Nemirova nimmt die Struktur der 18 fragmentarischen Szenen auf und lässt sie in einem neutralen, grau-schwarzen Einheitsraum spielen. Die bessere Gesellschaft beobachtet unbeteiligt, Geld zählend oder Drinks schlürfend, wie der Soldat Woyzeck (Marc-Olivier Oetterli) zum Mörder an seiner Marie (Simone Stock) wird. Konzentration und Intensität entstehen, weil Nemirova die Rollen mit dem Ensemble sehr genau aus Text und Musik entwickelt hat. Nicht einsichtig wird nur, warum sie mit der Umwandlung des Epilogs zum Prolog Gurlitt Berg angleicht. Trotzdem sei nach der Premiere die Aussage gewagt: Ohne Bergs Konkurrenz hätte sich Gurlitts weniger sperriger, aber ebenso dichter «Wozzeck» als Literaturoper durchgesetzt, die den Text zur Geltung kommen lässt und nah wie wenige an die Vorlage herankommt.

In zwei Wochen wird das Luzerner Theater mit der «Woyzeck»-Version von Tom Waits und Robert Wilson dem Gurlitt-«Wozzeck» eine ganz andere, auch musikalisch geprägte zweite Inszenierung zur Seite stellen. So beziehungsreich dürften Spielpläne öfter sein.