Nostalgie im Bohémien-Chic

Marianne Mühlemann, Der Bund (11.09.2009)

La Bohème, 09.09.2009, Bern

Mit Giacomo Puccinis «La Bohème» setzt das Stadttheater Bern auf einen sicheren Wert des Opernrepertoires

Musikalisch brillant und stimmlich farbenreich gestalten das Berner Symphonieorchester unter der Leitung von Srboljub Dinic und das Sängerensemble eine im Detail poetische, szenisch jedoch ziemlich konventionelle Spielzeiteröffnung.

Winter ists und Weihnachtszeit, doch festlich ist anders. Durch die karge Mansarde der Männer-WG im Pariser Quartier Latin weht frostige Kälte. So zeigt sich Nostalgie im Bohémien-Chic: eine Badewanne auf gebogenen Beinen, ein in die Jahre gekommenes Klavier, eine schmuddelige Matratzenburg als mobile Liege- und Liebesstätte. In dem nostalgisch-naturalistischen Ambiente von Bühnenbildnerin Julia Hansen haben sich der Maler Marcello, der Dichter Rodolfo, der Musiker Schaunard und der Philosoph Colline eingerichtet. Das Quartett übt im ungebundenen Künstlerleben das Überleben: Kein Holz ist da, um den Ofen einzuheizen, kein Geld, um den knurrenden Magen zu besänftigen. In ihrer Not füttern die vier den Ofen mit ihrem spärlichen Mobiliar – und den eigenen Ideen: Für ein wenig Wärme lässt Rodolfo sein angefangenes Manuskript in Flammen aufgehen.

Verzicht auf Aktualisierung

Musikalisch gibt sich der Auftakt zur neuen Saison fulminant, szenisch jedoch ziemlich konventionell. Möglicherweise vermag das weder jene ganz zu befriedigen, die den Opernklassiker schon lange kennen, noch jene, die die «Bohème» neu entdecken. Die Diskrepanz zeigt sich auch im zweiten Akt. Die hervorragenden Choristen (mit dabei auch der Kinderchor der Musikschule Köniz), die das chaotisch-bunte Treiben auf dem Weihnachtsmarkt markieren, agieren in stereotypen, durchrhythmisierten Bewegungsführungen, die von der Haupthandlung eher ablenken, als sie zu unterstützen. Regisseurin Mariamé Clément hat es angekündet (Interview im «Bund» vom 7. 9.): Sie verzichte bewusst auf eine Aktualisierung des Stoffes. Es klang wie ein Versprechen. Wer ihre bisherigen Arbeiten am Stadttheater kennt («Il Viaggio a Reims», «La Traviata» und «Il Barbiere di Siviglia»), weiss, dass Clément oft mit Details überrascht, suggestiven Lichtwechseln, die innere Stimmungen der Figuren sichtbar werden lassen, oder Ideen, die dem Gesang als Subtext neue Deutungsebenen unterlegen. Sie sind auch in der «Bohème» zu finden. Wer genau hinsieht, entdeckt, dass das Mobiliar in der Mansarde an Sicherheitsseilen hängt. Sie ragen vertikal in den Bühnenhimmel. Damit wird die anfängliche Puppenstubenromantik mit einer surrealen Dimension aufgeladen. Mit einem «Suspense» der Erwartung. Die Seile verweisen nicht nur auf die Todesszene am Schluss, wenn Mimi, die kleine Näherin (Tamara Alexeeva) stirbt und ihr Geist in die Höhe entschwebt. Sie verstärken auch die erste Begegnung zwischen ihr und Rodolfo in der kalten Mansarde: Während sich zwischen den beiden eine zaghafte Liebe entfaltet und sie die Welt um sich vergessen, entschwindet das Mobiliar an den Seilzügen lautlos in die Höhe. Ein Effekt, der unter die Haut geht.

Hervorragende Akustik

Das Berner Symphonieorchester unter der Leitung von Srboljub Dinic steuert eine Fülle von vitalen, transparenten Klängen bei. Sie verleihen den nostalgischen Bildern Frische, treiben die Handlung an. Der neue Klangboden scheint sich zu bewähren, die Akustik ist hervorragend. Die grossflächig verbesserte Resonanz führt zuweilen sogar dazu, dass das Orchester zu laut ist und die Sänger übertönt. Insbesondere zu Beginn des Abends. Die feinen Piani, mit denen Puccini der Liebesseligkeit ebenso Ausdruck verleiht wie dem Herzschmerz, werden erst nach der Pause hörbar.

Rodolfo (Hoyoon Chung) gewinnt im Laufe des Abends an Intensität und Ausstrahlung. Wie er mehrmals mit jugendlichem Furor mit dem Rücken zum Publikum gegen die Kälte und später die Trauer ansingt, ist anrührend. Marcello (Robin Adams) bringt mit seinem voluminösen Bariton nicht nur das «Rote Meer» auf seiner Leinwand zum Wogen, sondern auch die Leidenschaft zur koketten Musetta (Daniela Bruera). Lionel Peintre überzeugt als jugendlicher Hausherr Benoit, Gerardo Garciacano als temperamentvolle Schaunard und Carlos Esquivel als Colline. Für Tamara Alexeeva als Mimi ist es ein Debüt am Stadttheater. Ihre natürliche Verwandlungsfähigkeit überzeugt das Berner Publikum. Die Sopranistin wächst über sich hinaus, je weniger sie versucht zu «spielen». In einem grossen Spannungsbogen führt sie ihr armseliges Leben zu Ende, derweil ihre Sopranstimme immer weicher und glutvoller wird. Man wird sie wiedersehen.