Von der grossen Liebe in der mittellosen Pariser Kunstwelt

Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (11.09.2009)

La Bohème, 09.09.2009, Bern

Das Stadttheater Bern brachte am Mittwoch zur Saisoneröffnung Giacomo Puccinis Oper «La Bohème» auf die Bühne. Eine nicht ganz geglückte Hauptprobe für den grossen Fernseh-Event am 29. September.

Klavier, Bett, Stühle, Tisch - alles in der pittoresk ausstaffierten Pariser Bohème-Wohngemeinschaft von Bühnenbildnerin Julia Hansen hing zu Beginn der Inszenierung von «La Bohème» am Mittwoch im Stadttheater Bern an kräftigen Stahlseilen. Man ahnte es schon: Sie werden irgendwann in den Bühnenhimmel schweben, und zwar genau in jenem Moment, in dem Mimi und Rodolfo ihre grosse Liebe entdecken. Da weiteten sich die Räume, und eine selige kleine Ewigkeit lang waren die beiden fast wie Tristan und Isolde.

Noch ein zweites Mal schaffte die Regisseurin Mariame Clément mit einem symbolkräftigen Bild besondere Atmosphäre: Am Ende, nach Mimis Tod, erschienen zwei riesige rote Rosen, während das Bohème-Zimmer im Dunkel verschwand. Sonst aber erzählte Clément die Geschichte ohne weitere Abstrahierungen in realistischen zeitgenössischen Kostümen und Ausstattungen, liess die Bohème-Clique ihr pittoreskes Künstlerdasein fristen, in dem schon eine Flasche Wein ein Fest ist. Eine detaillierte Personenführung und ein schauspielerisch engagiertes und bewegliches Ensemble sorgten mit ihr für eine durchaus unterhaltsame szenische Umsetzung von Giacomo Puccinis populärer Oper.

War der Boden schuld?

Im Berner Orchestergraben wurde diesen Sommer ein neuer Boden eingezogen, der für verbesserte Resonanzen sorgt und in ersten Reaktionen euphorisch gelobt wurde. Allerdings ist es kaum vorstellbar, dass diese simple Baumassnahme allein dafür verantwortlich ist, dass das Berner Sinfonieorchester in dieser Premiere so dominant und klanglich grob wirkte. Vielmehr bewies Srboljub Dinic an seinem Pult ein sehr simples Verständnis von Puccinis Orchestersprache: Wo er eine Melodielinie fand, da liess er sie ohne jede Rücksicht auswalzen. Dass Puccini oft sehr bewusst und sehr detailliert klangliche und rhythmische Finessen verlangt, wurde völlig ausgeblendet, und in plumper Lautstärke von einem nicht einmal besonders kompakten Orchesterklang übertüncht.

Nicht nur Puccini, vor allem auch den Sängern tat Dinic damit keinen Gefallen: Tamara Alexeeva hätte eigentlich eine ganz passable Mimi abgegeben. Wenn sie jedoch ihre Stimme mit voller Kraft führte, geriet ihr Vibrato ins Flackern und die Klangfarben verloren sich, bis fast nur noch die Anstrengung hörbar blieb. Dass sie ihrer Mimi auch wärmere, anrührende Züge zu geben vermöchte, zeigte sie im letzten Akt, wenn Mimi in den Armen Rodolfos stirbt. Hier konnte sie die Linien mit herzergreifender, subtiler Zartheit ausgestalten und wurde vom Orchester nicht mehr zum Forcieren gezwungen. Auch Hoyoon Chung als Rodolfo versuchte immer wieder, mittlere Regionen der Dynamik einzubringen und farbliche Werte etwas schattierter zu setzen. Dinic jedoch liess es selten zu, hielt meist die Orchesterdynamik so hoch, dass auch der Koreaner sich nur mit gestemmten Tönen zu helfen wusste.

Auch die übrigen Mitglieder dieser munteren Bohème-Kommune nahmen immer wieder die letzten Kraftreserven in Anspruch, sodass sich die übermütige Kissenschlacht oder der Kampf um ein wärmendes Feuer mitunter wie ein Fortissimo-Wettstreit ausnahmen. Daniela Bruera als Musetta, Robin Adams als Marcello oder Gerardo Garciacano als Schaunard machten jedoch das Beste aus diesen Umständen.

«La Bohème» im Wohnsilo

Das Klangbild wird sich zweifellos ändern, wenn am 29. September «La Bohème» das Theater verlässt und als Fernseh-Event im Stil jener bereits legendären «Traviata» im Zürcher Hauptbahnhof in die Schweizer Stuben flimmert. Ein Wohnsilo in Bern-Bethlehem wird diesmal den Schauplatz für grosse Oper abgeben. Das Berner Theater ist Koproduktionspartner. Allerdings singt mit Maya Boog, Saimir Pirgu und Eva Liebau eine andere Besetzung die Hauptrollen.