Szenen einer Künstler-WG

Oliver Meier, Berner Zeitung (11.09.2009)

La Bohème, 09.09.2009, Bern

Bunt, bilderstark und lebensecht: Mariame Clément bringt zur Saisoneröffnung Giacomo Puccinis «La Bohème» auf die Stadttheaterbühne. Eine prägnante Inszenierung, getragen von einem glänzenden Orchester.

Am Ende bleiben zwei Rosen. Riesengross und tiefrot erscheinen sie auf der Bühne, flankieren die schäbige Mansarde, in der sich das Drama abspielt: Mimì (Tamara Alexeeva), die Blumenstickerin, liegt auf einem Berg von Matratzen. Alle wissen, dass sie tot ist, nur Rodolfo (Hoyoon Chung) hat es nicht gemerkt. Erst die Blicke seiner Freunde Marcello (Robin Adams), Colline (Carlos Esquivel) und Schaunard (Gerardo Garciacano) lassen die Ahnung in ihm hochkommen. Puccinis Libretto spricht von einem Rodolfo, der seine Liebste «in höchster Verzweiflung» schüttelt und schreiend ihren Namen ruft. Nichts davon ist auf der Berner Bühne zu vernehmen. Verstört und wie gelähmt nimmt er zur Kenntnis, was nicht mehr zu verhindern ist.

Sanfte Irritation

Am Ende bleiben die Kunstrosen – als Leitmotiv einer ebenso subtilen wie prägnanten Inszenierung. Immer wieder sind sie aufgetaucht, auf Hüten und Kleidern, aber auch bei der ersten Begegnung von Mimì und Rodolfo: In der berühmten Kussszene erscheinen die Rosen auf den zerschlissenen Tapeten, ins Schummerlicht getaucht.

Gehts noch kitschiger? Bei Mariame Clément gehört das zum Konzept. Die französische Regisseurin spielt mit dem romantischen Pathos, ohne es ins Lächerliche zu ziehen. Manches wird überdreht, manches gebrochen, mit einer Ironie, die der sanften Irritation verpflichtet ist und das Verhältnis von Kunst und Realität zur Debatte stellt.

«Die Komödie ist wundervoll!», ruft der Musiker Schaunard im Café Momus. Und das gilt auch für die Inszenierung der beiden ersten Akte: Temporeich, mitunter slapstickartig, werden die Zuschauer von der Künstler-WG in den Weihnachtstrubel geführt. Das passt zur heiteren Arglosigkeit, mit der die Kindsköpfe ihr Bohemienleben zelebrieren. Clément und Julia Hansen (Bühne, Kostüme) verzichten dabei auf eine äussere Modernisierung der Vorlage. Mit Liebe zum Detail und einem ausgeklügelten Licht- und Farbenkonzept beschwören sie die Atmosphäre des Fin de Siècle herauf. Umso stärker wirken die neckischen Brüche: Ballone, Zuckerwatte und Kitschbäume prägen die Festfreude im Quartier Latin, der Spielwarenverkäufer Parpignol gleitet als Märchenweihnachtsmann durch den Raum. Und als Mimì und Rodolfo zueinander finden, schwebt das Wohnungsinterieur buchstäblich in den Bühnenhimmel.

Transparentes Klangkleid

Das Berner Symphonieorchester unter der Leitung von Srboljub Dinic fügt sich bestens ins Regiekonzept ein. Puccinis Meisterschaft im Ausmalen von inneren und äusseren Stimmungen wird plastisch, in feinen dynamischen Abstufungen zur Geltung gebracht. Leichtfüssig kommt der erste Teil daher, umso schattiger der zweite, der unaufhaltsam ins Drama mündet. Wie Erinnerungsfetzen lässt Puccini da die bekannten Motive wieder auftauchen – abgedunkelt und zerbrechlich. Dinic arbeitet das heraus und packt es in ein schlankes, transparentes Klangkleid.

Die erfrischende musikalische Deutung deckt sich mit dem Geist der Inszenierung. Bei aller Historisierung erscheint sie doch sehr zeitgemäss. Und das liegt nicht zuletzt an der Figurenzeichnung, die manch lieb gewordene Tradition auf den Kopf stellt. Mimì erscheint bei der stimmlich tadellosen Tamara Alexeeva nicht als schüchternes Mädchen, eher als selbstbewusste Frau, der man die sporadischen Verlegenheitsgesten nicht unbedingt abnimmt. Zusammen mit Daniela Bruera, die als kokette Musetta zu gefallen weiss, bildet sie das Duo der starken Damen. Die Herren der Schöpfung dagegen erscheinen eher als (entscheidungs-)schwaches Geschlecht – allen voran Rodolfo, der bis zuletzt eine durchaus sympathische Zögerlichkeit an den Tag legt. Hoyoon Chung ist kein Mann der grossen Gesten, was sich auch in der Stimme zeigt: So geschmeidig die Pianostellen daherkommen, so forciert und unrein klingt mitunter das Forte.

Clément gelingt es, die Paargeschichten in Beziehungsbilder zu übersetzen, die viel von heute erzählen. Am Ende bleiben nur die Riesenrosen. Sie stehen für das Leiden. Vielleicht auch für die Erinnerung, die manche Liebe grösser erscheinen lässt, als sie wirklich war.