Die Passionsgeschichte der Frau

Herbert Büttiker, Der Landbote (12.09.2009)

La Bohème, 09.09.2009, Bern

Mit Antonio Salieri und Manfred Gurlitt gehören Raritäten zum Saisonauftakt. Überflieger des Opernherbsts ist aber Giacomo Puccini mit «Butterfly» in Basel, «La Bohème» in Bern – und dank SF in der Stube respektive im Hochhaus.

Eine halbe Million Zuschauer sass vor einem Jahr vor dem Fernseher, als Violetta und Alfredo ihre unmögliche Liebe im Klang von Verdis Musik im Hauptbahnhof verhandelten. Auf ein ebenso grosses Publikum hofft das Fernsehen, wenn es nun ein vergleichbares Spektakel in einem Hochhaus und einem Einkaufszentrum in Bern inszeniert. Das Liebespaar heisst jetzt Mimì und Rodolfo. Mit Verdis Protagonisten teilt es nicht nur die Stimmlage Sopran und Tenor, sondern auch das Schicksal: Wie Violetta stirbt auch Mimì jung an der «Schwindsucht». Zerstört wird das Liebesglück bei Puccini aber weniger durch das Verdikt der bürgerlichen (Schein-)Moral wie bei Verdi als durch die soziale Misere. Die Künstler frieren. Der Dichter füttert den Zimmerofen mit seinem Manuskript – die grosse Liebesszene leuchtet als blaues Flämmchen.

Wie sich diese Szene in einem zentralgeheizten Hochhaus ausnimmt, wird uns das Fernsehen vorführen. Auf der Bühne des Berner Stadttheaters, das auch für das Fernsehen die Mannschaft stellen wird, zeigen uns Mariame Clément (Inszenierung) und Julia Hansen (Bühne und Kostüme) die Mansarde mit dem Zimmerofen wie in allen Inszenierungen rund um den Globus. Aber das dürftige Mobiliar ist an dicken Seilen befestigt, so dass der Schauplatz in Anführungszeichen steht. Wenn Tisch, Klavier, Bett und Ofen dann zum ersten schwelgerischen Liebesgesang Mimìs und Rodolfos in die Höhe schwebt, ist klar, dass wir uns nicht in Paris, sondern im Theater befinden und es um die Poesie der Bühne geht. Dies auch ganz am Schuss noch, wenn die Seitenwände zusammengeschoben werden und monströsen Rosenblüten Platz machen, die die Todesszenerie einrahmen. Es ist insgesamt eine Poesie der handfesten Theaterschminke, wie insbesondere auch die grelle Satire des weihnächtlichen Quartiers Latin zeigt. Verbunden ist sie jedoch mit einer Personenführung von unaufdringlicher Klarheit. Schön etwa, wie in dieser Inszenierung Mimì sich den Poeten erobert, berührend der leise Schock ihres Endes bis zu Rodolfos Aufschrei.

Drängend unsentimental

Für beide Aspekte gibt es die musikalischen Entsprechungen in der von Srboljub Dinic packend geleiteten Aufführung. Sie kapriziert sich weniger auf das Parfum von Puccinis Musik und treibt ihre expressive Seite hoch, drängend unsentimental. Das gilt zwar für ein weites und differenziertes dynamisches Spektrum, aber manchmal doch mit einem Druck, der das Haus an seine Grenzen bringt. Das geschieht durchaus einvernehmlich mit kraftvollen, aber flexibel phrasierenden Stimmen.

Mit Hoyoohn Chungs glanzvollem Tenor, der auch im Mezzavoce mühelos klingt, und mit dem vibratoreichen Sopran von Tamara Alexeeva sind Mimì und Rodolfo ein liebeswürdiges, lyrisch intensives Paar; mit den impulsiv deklamierenden Stimmen von Robin Adams und Daniela Bruera setzen Marcello und Musetta den eifersüchtig lauten Kontrapunkt. Kräftige Farben ins Künstlerquartett bringen auch Carlos Equivel als elegischer Philosoph und Gerardo Garciacano als burlesker Musiker. Nebenfiguren und im zweiten Bild die draufgängerischen Chöre runden das Bild einer solidenProduktion ab.

Ein Opernereignis

Mit «La Boheme» (1896) begann Puccinis Trilogie, die seine Weltkarriere begründete. Nach «Tosca» (1900) schrieb er «Madama Butterfly» (1904), «tragedia giapponese», die wohl als seine grösste kompositorische Leistung betrachet werden kann: Wie er das exotische Kolorit in den lyrischen musikalischen Fluss einkomponiert, wie er die Leitmotive einsetzt, wie die quasi «unendliche» Melodie dem Puls des Dramas folgt, wie die Musik die leisen Erschütterungen und grossen Ausbrüche seiner Heldin seismografisch festhält – all das sucht seinesgleichen, und ist jetzt im Theater Basel in der ganzen Fülle zu finden.

Das Orchester spielt unter Enrico Delamboye in Hochform. Es macht das sinfonische Intermezzo zur erschütternden Klangrede, und es atmet mit einem hervorragenden Ensemble, das von der jungen Russin Svetlana Ignatovich als Cio-Cio-San angeführt wird: als eine Figur, die mit der ganzen Leuchtkraft und Innigkeit ihrer Stimme aus der Opernwelt heraus ins Leben tritt und für das Schicksal der unendlich vielen steht, über die man am Ende weint.

Das Äquivalent dafür war an der Premiere der Jubel, der auch das Regieteam einschloss. Mit gutem Grund. Jetske Mijnssen (Inszenierung), Paul Zoller (Bühne) und Arien de Vries (Kostüme) treffen den Nerv von Puccinis Musik präzis, obwohl oder gerade weil sie nicht den Kulturkonflikt, sondern das Allgemeine – die verlassene Frau, die Mutter und das Kind, die perspektivlose Verzweiflung – ins Zentrum stellen.

Das zeigt schon die Besetzung: Der amerikanische Konsul ist mit einem Koreaner (eindringlich: Eung Kwang Lee) besetzt, Pinkertons «richtige» Ehefrau, für die er seinen exotischen Schmetterling sitzen lässt, ist hier eine dunkelhäutige Sopranistin (Jeanine De Bique) aus Trinidad, und auf asiatisch geschminkt ist keine der Figuren im Stück, weder Suzuki (Valentina Kutzarova), noch Goro (Karl-Heinz Brandt). Die Bühne spiegelt das Japanische nur im Sinne einer kalligrafischen Ästhetik eines modernen Ambientes und zielt damit suggestiv ins Allgemeine wie in die Nähe.

Und so versteht die Regie auch zu erzählen: Figuren und Handlung wirkten ganz nah und neu. Der Versuch im ersten Akt, ein künstliches Paradies zu schaffen, erhält im vergammelten des zweiten ein Echo. Im ersten ist nicht zu übersehen, dass Cio-Cio-San im Heiratshandel eine durchaus aktive Rolle spielt, um ihrer Welt zu entkommen, im zweiten verweist alles auf das Leben des Kindes, das die Regisseurin mit grossartiger Intuition zur stummen und vielsagenden Hauptrolle macht. Beamte treten auf und protokollieren die Zeichen der neurotischen Verhältnisse, Polizisten sind anwesend, wenn es abgeholt wird. Cio-Cio-San sieht zu und geht dann ihren Weg – zu hören ist «Madama Butterfly» so auf neue Weise als eine einzige grosse Meditation zur Passionsgeschichte der Frau.

Wenn das Operncasting zum Auftakt der Saison nicht nach Einschaltquoten entschieden, sondern nach dem künstlerischen Ereignis gewertet wird, ist die Basler «Butterfly» als Favorit gesetzt.

«La Bohème im Hochhaus»

Mit der Produktion «La Bohème im Hochhaus» will die Abteilung Kultur des Schweizer Fernsehens (SF) seinen Erfolg («den grössten, den wir je hatten») fortsetzen. Nach Verdis «La Traviata» im Zürcher Hauptbahnhof vor einem Jahr kündigte SF-Kulturchef Rainer M. Schaper vor den Medien unlängst die «Wohnoper fürs Heimkino» an. Schauplatz und Bühne für Giacomo Puccinis «La Bohème» sind ein Hochhaus im Berner Gäbelbachquartier sowie das Einkaufszentrum Westside.

Dort ist auch das Berner Symphonieorchester stationiert. «La Bohème im Hochhaus» basiert auf der neuen Produktion zur Saisoneröffnung des Stadttheaters Bern. Für die Hauptrolle verpflichtete das Fernsehen allerdings eigene Künstler. Diese müssten sowohl stimmlich als auch schauspielerisch überzeugen: «Schliesslich sind bei unserer ‹Bohème› die Kameras hautnah dran», erklärt Redaktionsleiter Thomas Beck dazu. Maya Boog verkörpert Mimi, ihren Liebhaber Rodolfo gibt Saimir Pirgu.

Das neue Opernprojekt des Schweizer Fernsehens soll – was die technische und logistische Komplexität anbelangt – «La Traviata im Hauptbahnhof» sogar übertreffen. Ein grosses Anliegen ist den Fernsehleuten auch der Einbezug der Bewohner: «Uns geht es darum, den Menschen eine der schönsten Opern nach Hause zu bringen», sagt Thomas Beck. «In diesem Fall ist dies wörtlich zu verstehen.»