Jürgen Verdofsky, Tages-Anzeiger (12.09.2009)
Am 29. September wird «La Bohème» aus einem Berner Hochhaus im Schweizer Fernsehen übertragen: ein Vorhaben, das an die ungemein erfolgreiche «Traviata» aus dem Zürcher Hauptbahnhof anknüpfen soll. Die Berner «Bohème» hatte vorgestern ihre «ordentliche» Premiere: Zur Spielzeiteröffnung im Stadttheater.
Fulminant geriet der Abend musikalisch, szenisch jedoch ziemlich konventionell. Regisseurin Mariamé Clément verzichtete bewusst auf eine Aktualisierung des Stoffes. Allerdings lädt sie die Puppenstubenromantik der Künstlermansarde mit einer surrealen Dimension auf. Das Mobiliar hängt an Seilen, die in den Himmel reichen. Sie verweisen nicht nur auf die Todesszene am Schluss, wenn Mimi stirbt und ihr Geist in die Höhe entschwebt. Sie verstärken auch die erste Begegnung zwischen ihr und Rodolfo in der kalten Mansarde: Während sich zwischen den beiden eine zaghafte Liebe entfaltet und sie die Welt um sich vergessen, entschwindet das Mobiliar an den Seilzügen lautlos in die Höhe. Ein Effekt, der unter die Haut geht.
Das Berner Symphonieorchester unter der Leitung von Srboljub Dinic steuert eine Fülle von vitalen transparenten Klängen bei. Sie verleihen den nostalgischen Bildern Frische, treiben die Handlung an. Der neue Klangboden scheint sich zu bewähren, die Akustik ist hervorragend. Die grossflächig verbesserte Resonanz führt zuweilen sogar dazu, dass das Orchester anfangs zu laut ist und die Sänger übertönt.
Rodolfo (Hoyoon Chung) gewinnt im Laufe des Abends an Intensität und Ausstrahlung. Für Tamara Alexeeva als Mimi ist es ein Debüt am Stadttheater. Die Sopranistin wächst über sich hinaus, je weniger sie zu «spielen» versucht. In einem grossen Spannungsbogen führt sie ihr armes Leben zu Ende, derweil ihre Sopranstimme immer weicher und glutvoller wird.