Opfer und Täterin aus Liebe

Martina Wohlthat, Neue Zürcher Zeitung (16.09.2009)

La Bohème, 09.09.2009, Bern

Neuinszenierungen zweier Puccini-Opern in Bern und Basel

Die musikdramatischen Werke von Giacomo Puccini gelten nach wie vor als unversiegbare Quellen opulenter musikalischer Gefühlsströme. Das Stadttheater Bern eröffnet die neue Saison mit «La Bohème», das Theater Basel mit «Madama Butterfly». Zwei Regisseurinnen haben diese «Frauentragödien aus Männerhand» in Szene gesetzt. Ihr Blick auf theatralisches Sentiment und die Opferrolle der Frau fällt unterschiedlich aus. Gemeinsam ist beiden Inszenierungen, dass die Frauen hier nicht nur passive, unschuldige Wesen, sondern auch Handelnde sind, während die männlichen Helden durch ihre Selbstherrlichkeit beschränkt erscheinen.

Spiel mit den Klischees

Rodolfo dichtet fröstelnd in der Badewanne, der Maler Marcello erwärmt sich an der jungen Frau, die ihm Modell sitzt. Die Bohémiens frieren, trinken und liefern sich in ihrer Mansarde ausgelassene Kissenschlachten. So weit ist in der «Bohème»-Inszenierung von Mariame Clément am Stadttheater Bern alles beim Alten. Die französische Regisseurin spielt zwar mit den Konventionen des Ausstattungstheaters, indem sie das schüttere Mobiliar der Künstler-WG an gut sichtbaren Seilen in den Schnürboden entschweben lässt und damit die Bühne (Julia Hansen) frei macht für die aufkeimende Liebe zwischen Rodolfo und der von der Tuberkulose ausgezehrten Blumenstickerin Mimì. Doch auch wenn der Chor im Gedränge des Quartier Latin starre Halbmasken trägt, bleibt dies alles harmlos.

Bei Mariame Clément gehört das Spiel mit den Klischees zum Konzept. Am Ende flankieren zwei riesige rote Rosen die schäbige Mansarde, wo Mimì auf einem Haufen alter Matratzen stirbt. Rodolfo, der wie ein grosses Kind stets mit dem Kopf in den Wolken schwebt, bemerkt dies als Letzter. Er wird als handlungsgehemmter Träumer charakterisiert, der Mimìs Leiden viel zu spät begreift. Stimmlich ist Hoyoon Chung als Rodolfo dagegen durchaus präsent, er singt die Kantilenen mit vielfältigen Abstufungen, anfangs aber auch mit einer gewissen Neigung zum Forcieren. Mimì ist bei der vokal wie darstellerisch in sich ruhenden Tamara Alexeeva keine schüchterne Naive, sondern eine lebenserfahrene Frau, die noch einmal das Glück herausfordern will. Die künstlichen Rosen, das Symbol solcher Wünsche, finden sich in der Inszenierung auf Hüten, Kleidern und Tapeten wieder. Aber auch das wirkt etwas konventionell.

Das Spiel des Berner Symphonieorchesters unter der Leitung von Srboljub Dinic fügt sich ins Bild eines eher alltäglichen Beziehungsdramas. Die emotionalen Stimmungen werden mit kräftigem Strich ausgemalt. In der Sommerpause wurden im Orchestergraben des Berner Stadttheaters neue, resonanzreichere Klangböden eingebaut, die den Orchesterklang voller und farblich satter, aber auch etwas knallig erscheinen lassen.

Nicht in erster Linie emotional, sondern mit einem familientherapeutischen Blick nähert sich die niederländische Regisseurin Jetske Mijnssen in ihrer Basler Inszenierung Puccinis «Madama Butterfly». Der erste Akt ist eine in kaltes Licht getauchte Farce in einem Neubau, in dem noch der Plasticvorhang der Handwerker hängt (Bühne: Paul Zoller). Weiss gedeckte Stehtische und Sekt aus Plexiglaskelchen bilden die Szenerie für die achtlos arrangierte Hochzeit der Japanerin Butterfly (Svetlana Ignatovich) mit dem Amerikaner Pinkerton (Maxim Aksenov). Butterflys Familie besteht aus einer verarmten Mutter und einer unterwürfigen Schwester. Ihr Vater hat sich auf Befehl des Mikados umgebracht.

Diese vaterlose Familienstruktur setzt sich durch das Stück fort und wirkt in dem skizzierten mafiösen Umfeld erst recht schutzlos. Frauen, deutet Jetske Mijnssen an, werden in diesem Stück als Frischfleisch mit raschem Verfallsdatum an den Meistbietenden verkauft. Wenn Madame Butterfly dennoch an die Liebe glaubt, hat dies fatale Folgen vor allem für ihr Kind. Der Knabe (Noah Scholz) lebt im zweiten Teil mit Mutter und Tante völlig isoliert in einem Wohncontainer, wird entweder von Zärtlichkeit erdrückt oder krass vernachlässigt, bis ihn am Schluss die Vertreter des Staates aus der sozialen Misere herausholen.

Verblüffende Aktualität

Dieser Interpretationsansatz mit verblüffenden Parallelen zur Notlage heutiger Migrantinnen verleiht der Handlung eine innere Schlüssigkeit, ohne bloss vordergründig zu aktualisieren. Vor allem im zweiten Teil entwickelt das im Zusammenhang mit Puccinis sehnsuchtsvoll wuchernder Melodik eine beklemmende Wirkung. Entscheidenden Anteil daran hat Svetlana Ignatovich in der Titelrolle, die die Wandlung vom koketten Opfer zur verzweifelten Täterin plausibel macht und sowohl schauspielerisch als auch in ihrer stimmlichen Ausdruckskraft über sich hinauswächst. Das mit kräftigen jungen Stimmen besetzte Ensemble agiert unter der musikalischen Leitung von Enrico Delamboye präzise und engagiert. Erfreulich differenziert tönt auch das Sinfonieorchester Basel, das die emotionale Fallhöhe der Musik trotz der nüchternen Szenerie in schillernden Farben zur Wirkung bringt.