Der andere "Wozzeck": Gurlitt in Luzern

Jörn Florian Fuchs, Wiener Zeitung (08.09.2009)

Wozzeck, 06.09.2009, Luzern

Das wäre einmal was für das "Millionenspiel": Welche Oper nach dem berühmten Fragment von Büchner wurde am 22. April 1926 uraufgeführt. Richtig, der "Wozzeck". Und von wem? Natürlich von Alban Berg. Und schon ist die wahrscheinlich bis dato erkleckliche Gewinnsumme dahin. Denn Berg führte seinen "Wozzeck" vier Monate vorher erstmals auf. Im April 1926 jedoch gab es im Stadttheater Bremen ein heute fast vergessenes Werk zu erleben: "Wozzeck" von Manfred Gurlitt.

Gurlitt und Berg wussten vermutlich nichts von ihren jeweiligen Operninteressen, der Stoff lag damals wohl einfach in der Luft. Gurlitts Variante wurde durch den Welterfolg Bergs indes rasch vergessen.

Während Berg seiner Partitur eine sehr komplexe, szenenübergreifende Struktur gab, komponierte Gurlitt einen Mix verschiedenster Formen und Formationen. Es gibt Fugen oder eine Passacaglia, aber ein Gesamtbogen fehlt. Für jede der knapp zwanzig Szenen stellte Gurlitt eine andere Kammermusikbesetzung zusammen, vom Orchester spielen somit immer nur ein paar Musiker. Sehr eindrückliche Kantilenen stehen neben zerhackten Instrumentalpassagen, die große, der Romantik entlehnte Operngeste wird zuweilen ernst genommen, dann wieder karikiert. Gurlitts "Wozzeck" ist reich an blühender Klangfantasie. Die scharf geschnittenen, manchmal äußerst kurzen Szenen führen ebenso klug wie pointiert das Geschehen vor. Nach 75 Minuten ist allerdings Schluss, der Titelheld ist tot, nachdem er seine unkeusche Gattin Marie gemeuchelt hat – Letzteres wird übrigens nur zart angedeutet.

Was dann jedoch folgt, ist ein Schlag gegen den Nihilismus à la Büchner und Berg. Denn Gurlitt stellt zur Disposition, ob es nicht vielleicht doch einen liebenden und verzeihenden Gott gibt.

Die Regisseurin Vera Nemirova kappt dieses Finale, stattdessen kommen die Choristen auf die Bühne und verbeugen sich zu Musik vom Tonband. Zuvor war der Chor als Partygesellschaft aufgetreten und hatte Cocktails geschlürft oder sich zum Lied "Wir arme Leut" mit Geldscheinen Luft zugefächelt. Auch sonst ist Nemirova einiger Unfug eingefallen. So fasst der Hauptmann Wozzeck einmal in den Schritt, was keinen rechten Sinn ergibt und im Folgenden auch nicht weiterverfolgt wird.

Crux des Antisemitismus

Richtig problematisch ist die Judenszene, die Alban Berg strich. Als Wozzeck ein Messer für den Mord an Marie kaufen will, trifft er einen ekligen Geldschneider ohne jegliche Moral. Gurlitt übernahm diese Judenkarikatur von Büchner und stattete den geldgierigen Kaufmann mit verqueren, derben Gesangslinien aus. Damit muss man heute natürlich irgendwie umgehen. Nemirova macht es allerdings irgendwie und lässt den dubiosen Doktor als verkleideten Juden auftreten. Gemeinsam mit dem Hauptmann verkauft er Wozzeck die Waffe. Das ist angesichts der heiklen Thematik vielleicht gut gemeint, aber letztlich doch etwas sehr platt gedacht.

Sieht man von diesen Malaisen ab, ist die Luzerner Produktion dennoch gelungen, da Nemirova sehr präzise mit den Sängern arbeitet und auf den bei ihr oft üblichen Schnickschnack verzichtet. Graue Wände, einige Podeste, ein Stuhl, viel mehr gibt es nicht und braucht es auch gar nicht. Gurlitts Stück funktioniert am besten, wenn man es einfach erzählt und ansonsten in Ruhe lässt.

Marc-Olivier Oetterli stürzte sich mit Verve und Fortune in die Titelrolle, Simone Stock als Marie ging durchaus mutig bis an die Grenzen ihrer Stimme, Manuel Wiencke überzeugte als Tambourmajor. Nur Thomas Gazheli brüllte sich recht grobschlächtig durch die Partie des Hauptmanns. Am Pult brachte Mark Foster die Musik zum Leuchten, sehr prägnant waren außerdem die Chöre vom Luzerner Theater und der Luzerner Kantorei.