Rossini-Oper als Tagesschau

Herbert Büttiker, Der Landbote (21.09.2009)

Mosè in Egitto, 19.09.2009, Zürich

Dass der Komponist des «Barbiere» auch ganz anders konnte, ist im Opernhaus Zürich wieder einmal spannend zu erleben. Sein «Mosè in Egitto» geht hier als musikalisch grossartiges Gegenwartsdrama unter die Haut.

Bombenattentate, bin Ladens Fernsehbotschaften, Menschen mit ihren Habseligkeiten unterwegs, Polizei in Vollmontur – es sind Bilder der «Tagesschau», an die Moshe Leiser und Patrice Caurier (Inszenierung) und der Bühnenbildner Christian Fenouillat anknüpfen. Die biblischen Plagen, die Gott über die Ägypter verhängt, sind die aktuellen. Wenn er die Sonne verdunkelt, geht an der Börse das Licht aus.

Für die Gegenwart schrieb Gioacchino Rossini auch seine Bibeloper, die er als «Azione tragico-sacra» bezeichnete. Sie kam 1818 in Neapel zur Uraufführung, zu einer Zeit also, als alle seine bekannten Opere buffe geschrieben waren und auch unkonventionelle Opere serie wie «Otello» bereits vorlagen. Auch «Mosè» lebt von weiträumig organisierten Nummern – darunter nur drei Arien, aber mehrere Duette und vielteilige Ensembles – und von ausdrucksvollem dramatisch-melodischem Rezitativ, zumal der Titelfigur.

Um Bibelfestigkeit ging es dabei nicht, um ein Oratorium auch nicht, aber erstmals um eine Oper mit den Chören in protagonistischen Rollen, um zwei Völker und ihre Führer. Bevor sich das Meer teilt und den Israe-liten den Weg in die Freiheit öffnet, stimmt Moses die Preghiera an, die der Chor zur Hymne anschwellen lässt und jene überwältigende Emphase ins Theater trägt, die über zwanzig Jahre später in Verdis «Nabucco» ihr verstärktes Echo finden sollte. Als Rossini die Oper in stark überarbeiteter Form 1827 in Paris an der Opéra herausbrachte, wurde sie mit dem Freiheitskampf der Griechen in Verbindung gebracht und auch als Geburtsstunde eines neuen Stils (der Grossen Oper) gefeiert.

Klarsichtig verunklärt

Mit dem heutigen Blick auf nationalistische und von religiösem Fundamentalismus grundierte Konflikte kann eine Inszenierung kaum mehr in hollywoodesken Bibelbildern Glaubwürdigkeit finden: Die Identifikation mit dem Helden ist in Frage gestellt, und daraus hat das Inszenierungsteam mit dem Ensemble grossartig konsequent seine Schlüsse gezogen. Der junge Bassist Erwin Schrott verkörpert den rossinischen Mosè mit einem sub-stanzreichen, aber vergleichsweise unpathetischen Bass, der in flackernder Unruhe lodert. Unverkennbar ist die Figur in die Nähe eines bin Laden gerückt, wenn er aus dem Versteck am Funktelefon seine Anweisungen gibt. Aber die Inszenierung verunklärt bewusst eine allzu leichte Identifikation. Neben Moses mit der Mütze des Freischärlers steht Aron mit der Kippa, und zur Preghiera falten die «Israeliten» sehr katholisch die Hände und werfen sich gleich darauf muslimisch zu Boden: Was der Chor der Oper Zürich an diesem Abend Grossartiges leistet, ist jedem Leiden, Erschrecken, Hoffen und Jubel der Menschenmassen auf dem Globus gewidmet.

So wie es nach oder neben der «Tagesschau» die «Serie» gibt, lässt die Inszenierung in «Mosè in Egitto» den Clan des Pharao im privaten und gestylten Ambiente ihrer schicken Wohnung wie im Fernsehen agieren. Die Bar, eine Rolls-Royce-Küche, einmal auch eine Hotelabsteige für das heimliche Treffen – alles mobil für tolle rasche Szenenwechsel – sind der Hintergrund für Familiensaga und Charakterstudie. Michele Pertusi gibt mit eher monochromem, aber sehr beweglichem und polterndem Bass eindrücklich präzis den tyrannischen Faraone, der seine Entschlüsse gern stampfend unterstreicht, aber schnell widerruft.

Seinen Sohn Osiride liebt der Pharao abgöttisch, und dass das für diesen ein Problem ist, zeigt Javier Camarena einfühlsam mit dem Glanz und schönen lyrischem Sentiment seines Tenors. Rossini gibt ihm eine Fülle sensibler Melodik in den Duetten mit Faraone und natürlich Elcìa – der Jüdin, die er fatalerweise liebt und von der er geliebt wird. Die spannende Frauenrolle als Mutter und «Hausfrau» (sie räumt hier tatsächlich die Küche auf, in der sich der Farao ein Ei gekocht hat) spielt die Sopranistin Sen Guo: musikalisch brillant und packend zeigt sie in ihrer Arie die Tragik der von ihren Männern ins Abseits gedrängten Amaltea, wobei offenbleiben mag, ob der vergebliche Kampf der Diktatorengattin dem Frieden oder doch bloss der teuren Garderobe gilt.

Die grosse Arie

Auch Elcìa, eine Nichte von Moses, ist eine Ausgestossene. Mit ihrer Liebe wird sie von beiden Parteien verdammt, und Osiride selbst hat kein Gehör für ihr Plädoyer einer «vernünftigen Trennung» und greift stattdessen zu Gewalt. Melodische Anmut, dramatisches Ethos und in der «Arie finale» (der freilich noch der dritte kurze Akt folgt) die tragische Höhe machen sie zur zentralen Figur des Stücks und eine der grossen Opernfiguren überhaupt. Eva Mei füllt diese Partie darstellerisch und sängerisch intensiv, wenn auch an diesem Abend wohl nicht optimal disponiert. Ihre Totenklage, während Osiride und die Blüte der jungen Männer, vom Fluch getroffen, sich im Blut wälzt, gehört zum Unvergesslichen des Abends.

Für die Frage, welcher Fassung der Vorzug zu geben sei, ist dieses in der Pariser Fassung nicht mehr vorhandene Akt-Finale gewiss ein Hauptargument. Hier wie dort tragen zum musikalischen Reichtum der Oper kleine Rollen wie Aronne (Reinaldo Macias) oder Amenofi (Anja Schlosser) bei, vor allem aber auch das Orchester, etwa mit ariosen Bläsersoli und inspirierten instrumentalen Szeneneinleitungen. Paolo Carignani, der für die «starke und konzentrierte» neapolitanische Fassung plädiert, schenkt diesem urwüchsigen Rossini alle Sorgfalt, vermeidet expressive Überladenheit.

Wenn Allegro-Themen oder, wie in der Arie des Mosè, Crescendo-Wirkungen Assoziationen zum heiteren Rossini wecken, so ist das weniger eine Frage des Dirigats als der Hörgewohnheit, die heute von der einseitigen Präsenz des Buffa-Komponisten geprägt ist. So bezwingend die Inszenierung das Werk in die Gegenwart holt, so klar erhält in dieser Aufführung Rossinis Musik ihr eigenes spezifisches Gewicht, das ja viel mit Mozart zu tun hat. Wie beides zusammenfindet, ist spannend bis zuletzt – unvergleichlich, tief berührend das Schlussbild mit Rossinis «gesegneter» Melodie und den zeitgenössischen Ikonen des geschundenen Menschen.