Die biblische Geschichte spielt an der Börse

Werner Pfister, Zürichsee-Zeitung (21.09.2009)

Mosè in Egitto, 19.09.2009, Zürich

Rossinis Oper «Mosè in Egitto» nach 170 Jahren wieder auf der Zürcher Bühne.

Nach ihrem Zürcher Debüt mit «Clari» bringen Moshe Leiser und Patrice Caurier nun Rossinis Bibel-Oper auf die Bühne – total unbiblisch.

«Mosè in Egitto» gehört zu jenen Opern, die Gioacchino Rossini in den Jahren 1815 bis 1822 für das Teatro San Carlo in Neapel schrieb und die sich alle durch eine besondere stilistische Vollkommenheit sowie durch eine ungewöhnliche Ausdrucksintensität auszeichnen. Dass er «Mosè in Egitto» als «azione tragico-sacra» bezeichnete, hat wohl primär pragmatische Gründe, denn hinter dieser Gattungsbezeichnung vermutete niemand eine profane Oper. Die Aufführung solcher weltlicher Werke war damals während der Fastenzeit nämlich verboten – und dieses Verbot konnte Rossini mit seiner «azione tragico-sacra» umgehen.

Eine wirklich biblische Oper hat er aber nicht komponiert. Im Zentrum steht die unglückliche Liebesgeschichte zwischen einer Israelitin und eines Ägypters – typische Opern-Romantik des 19. Jahrhunderts. Die biblische Geschichte ist nur Staffage, und in der Neuinszenierung von Moshe Leiser und Patrice Caurier ist sie nicht einmal mehr das. Weder alttestamentarische Vorzeit noch Rossinis 19. Jahrhundert – nein, angesiedelt wird die Story ganz in der heutigen Zeit, zwischen grellfarbigen Wohnküchen und Beton-Tiefgaragen, zwischen Flughafen-Terminal und Motel-Zimmer.

Der Anfang könnte schriller nicht sein – nämlich auf der Börse. Hektische Betriebsamkeit der Bankers vor ihren Bildschirmen, SMI-, Dow- und Nikkei-Indizes fallen ins Bodenlose. Der Pharao samt Frau und Sohn, grossbürgerliche Geschäftsleute, sehen ihr Vermögen davon schwimmen. Per Wandtelefon wird Moses um Hilfe herbeigerufen. Er erscheint – ein orthodoxer Israeli mit Rauschebart und im Kampfanzug, ein ersichtlich im Widerstandskampf erprobter, gross gewachsener, muskulös-viriler junger Mann. Erwin Schrott eben, der Star-Bassbariton und Bühnen-Beau aus Uruguay. Und es sei gleich hier gesagt: Vor allem auch dank ihm wird der Opernabend zum grossartigen Erlebnis.

Ob man die Israeliten endlich ziehen lasse oder doch nicht, darüber wird abwechslungsweise in der Wohnküche des Pharao oder seines Sohnes Osiride debattiert. Zwischen Rührei und Orangensaft, und Amaltea, die Gattin des Pharaos, die ein bisschen aussieht wie Imelda Marcos, besorgt anschliessend den Abwasch. Um Moses mitzuteilen, was man schliesslich beschlossen hat, wird er – wie in einem TV-Krimi – in eine Tiefgarage bestellt. Und dort von den Häschern des Herrn Pharao auch gleich gekidnappt. Hervorragend zeitgeistgemäss sind die Bühnenbilder von Christian Fenouillat.

Die Israeliten, denen die Ausreise versprochen wurde, versammeln sich im Flughafen-Terminal und besteigen dort ein «richtiges» Flugzeug. Doch im letzten Moment tritt Pharao auf und verhindert die Abreise. Moses zündet zwei Bomben im Gepäck der Israeliten – die so genannte «Feuerplage», der die ägyptischen Soldaten zum Opfer fallen. Eindrücklich ist das Schlussbild: Die Israeliten gehen durchs Rote Meer, die Ägypter ertrinken darin – mit Ausnahme des Pharao. Und wie sich die Wogen senken, stehen sich die beiden wieder gegenüber, Pharao und Moses, jeder an seinem Ufer, und sie werden sich fortan aus Distanz bekriegen.

Leute von heute

Das alles ist hoch virtuos in Szene gesetzt. Hier agieren Leute von heute auf der Bühne, singen dabei souverän zirkusreife Rossini-Koloraturen und wirken dennoch völlig normal, Menschen wie du und ich. Ein einziger Vorbehalt beträfe die Verlegung des letztlich politischen Geschehens zwischen zwei Völkern und Religionen ins Private: Damit erreichen die Regisseure zwar mehr Glaubwürdigkeit in der privaten Liebesgeschichte zwischen Osiride und Elcia, dies aber auf Kosten der ebenso aktuellen religionspolitischen Dimensionen.

Ausnahmslos alle singen und spielen sie hervorragend. Michele Pertusi als ebenso wendiger wie bassgewaltiger Pharao bietet Moses jederzeit die Stirn. Erwin Schrott kann seinen schwarzen Bassbariton zu wahrlich imperativem Volumen steigern und verfügt gleichzeitig über ein weich kantables Piano. Eva Mei setzt sich als Elcia mit der ganzen Kraft ihres strahlenden Soprans für ihre unglückliche Liebe ein, wobei die Stimme in getragenen Piano-Passagen fallweise etwas substanzarm wirkt. Javier Camarena verfügt als Osiride über eine stupende tenorale Strahlkraft und eine traumhaft expansionsfähige Höhe; und die vertrackten Koloraturen sind für ihn wie auch für Eva Mei sozusagen eine Hürde, die beide mit sportiver Souplesse und Eleganz meistern. Sen Guo steht ihnen als ausdrucksstarke Amaltea in nichts nach, Reinaldo Macias in der Rolle Arons wartet mit an Rossini geschulter tenoraler Eleganz auf.

Frenetische Ovationen

Unter Paolo Carignanis sprühend lebendiger Leitung entfalteten sich sowohl der Charme und die übermütige Spritzigkeit dieser singulären Partitur wie auch deren doppelbödigen Untertöne. Mit dem Orchester der Oper Zürich hat er einen vorbildlich differenzierten, in keinem Moment plakativen Rossini erarbeitet. Ausdrucksvolle Melodiebögen faszinierten dank perfekt intonierter Instrumentalsoli ebenso wie die brillanten Tutti-Passagen. Vorbehaltlos zu loben ist auch der von Jürg Hämmerli einstudierte Chor der Oper Zürich, dem eine zentrale Aufgabe zukommt. Zuhören und Zuschauen ist hier ein eindrückliches Erlebnis – den ganzen Opernabend lang. Entsprechend frenetische Ovationen zum Schluss, begeisterter Beifall für alle.